Kapitel 1

Tanis führt Logbuch

Kapitän Nugeter lebte davon, daß er die Castor vermietete, um Ladung, Leute, ganz gleich, worum man bat, durch die Ostmeere zu schiffen, ohne Fragen zu stellen. Tanis, Raistlin, Flint und Kirsig wurden daher kaum von der Mannschaft beachtet, als sie am Morgen an Bord gingen.

Da Tanis eine ereignisreiche Reise erwartete, beschloß er, ein Logbuch zu führen. Zu diesem Zweck erbat und erhielt er vom Kapitän Papier aus dessen Vorrat.

ERSTER TAGStürmischer Wind und Schmuddelwetter begrüßten uns, sobald wir die Küstenlinie nicht mehr sehen konnten. Die rötliche See nahm eine schmutzig braune Farbe an, ein Vorzeichen für die vor uns liegenden Gefahren.

Kapitän Nugeter versammelte mich, Flint, Raistlin, die Halbogerin Kirsig und seinen Ersten Steuermann – eine große, breitschultrige hellblonde Frau mit dem Namen Yuril (sie erinnert mich ungemein an Caramon, denn sie ist eine wirklich imposante Gestalt) – in seiner Kabine, um einen Blick auf die Karten zu werfen und die Route abzusprechen.

Obwohl Nugeter ein arroganter Mensch ist, kann man am Verhalten seiner Mannschaft erkennen, daß er sich sowohl ihre Sympathie als auch ihren Respekt erworben hat. Kirsig spricht jedenfalls in hohen Tönen von ihm, hauptsächlich wegen seiner Begegnungen mit ihrem Vater. Seine Kabine ist bescheiden eingerichtet. Sie enthält einen einfachen Schreibtisch, einen Wandschrank mit Sternen- und Seekarten und eine kleine Hängematte.

Als alle da waren, begann Kapitän Nugeter mit der Warnung, daß es keine Garantie gäbe, daß wir unser Ziel, die fernen Minotaurischen Inseln, sicher erreichen würden. »Ich habe das Blutmeer öfter als jeder andere Seefahrer herausgefordert«, erklärte der Kapitän, »aber ich vergesse nie, daß es ein Risiko ist, ein tödliches. Eure Gründe sollten es wert sein, dafür euer Leben aufs Spiel zu setzen.«

Flint wollte etwas sagen, doch Raistlin schnitt ihm das Wort ab. Das gebrochene Bein des Zwergs war sauber verbunden, doch sein Gesicht war grün, und zwar seit man ihn an Bord des Schiffes gehievt hatte. Die unruhige See, der wir seit dem Segelsetzen ausgesetzt waren, hatte seine Vorurteile gegenüber Seereisen bestätigt und sein Leiden verstärkt.

Raistlin versicherte dem Kapitän, daß wir nicht die Absicht hätten, umzukehren. Um dies zu bekräftigen, legte er einen Beutel mit Edelsteinen und Münzen auf den Tisch des Kapitäns. Ihr Wert war beträchtlich. Flint setzte sich mit großen Augen auf. »Das Doppelte«, betonte Raistlin, »wenn wir die Überfahrt in zehn Tagen schaffen.«
Andere Kapitäne halten sich ganz außer Reichweite des äußeren Rings des Mahlstroms inmitten des Blutmeers. Das ist der klügste Kurs, denn wenn ein Schiff in diese mächtige Unterströmung gerät, wird es in die immer engeren Ringe des Strudels gezogen und schließlich in das dunkelrote Wasser hinab, das unablässig dort wirbelt, wo einst die große Stadt Istar lag.

Nugeter schlug vor, den äußeren Ring des Mahlstroms direkt anzusteuern und mit der Strömung zu fahren, ohne in den Strudel zu geraten. Sobald wir nahe genug an den Inseln der Minotauren wären – ungefähr dreihundert Meilen –, würde sich die Castor aus dem tödlichen Sog freikämpfen.

»Das ist der einzige Weg, wie wir die Entfernung innerhalb von zehn Tagen überwinden können«, schloß der Kapitän. »Ansonsten ist es wegen der Strömungen und der Winde eine Reise von mehreren Wochen. Sicherer, aber weitaus langsamer.«

»Hast du das schon je zuvor versucht?« fragte Raistlin eindringlich.
»Nein«, gab der Kapitän schlicht zu.
Nach seiner Antwort lag lastende Stille in der Luft. »Aber es ist machbar«, meldete sich Yuril unerwartet zu Wort. »Ich bin mal mit einem Kapitän gefahren, der es geschafft hat. Es war eine schreckliche Reise. Wir mußten nicht nur mit der Strömung kämpfen, sondern auch gegen den ständigen Sturm, der im Mahlstrom herrscht. Der Tod winkte jeden Augenblick. In den hohen Brechern haben wir viele gute Seeleute verloren. Aber der Kapitän war entschlossen, es zu schaffen. Er hat sein Schiff exakt im richtigen Moment gewendet, so daß wir freikamen. Damit haben wir viel Zeit gespart.«
Neugierig fragte ich sie, was denn aus dem Kapitän geworden sei. Warum segelte sie jetzt mit Kapitän Nugeter?
»Pah«, entgegnete Yuril. »Mein alter Kapitän ist an Land umgekommen, in Blutsicht. An Bord seines Schiffes war er genial, in anderer Hinsicht ein Einfaltspinsel. Da besiegt einer das Blutmeer, nur um sich bei einer gewöhnlichen Kneipenschlägerei erstechen zu lassen!« Sie hielt inne und straffte die Schultern, während sie ihrerseits jeden von uns anstarrte. »Ich segele schon zwei Jahre mit Kapitän Nugeter. Er hat den nötigen Schneid und das Können. Damit ist es machbar.«
Sie stieß den Finger auf die Karte, die auf dem Tisch lag, um zu zeigen, wo das Schiff in den Mahlstrom eintreten würde und wo wir – wenn das Glück uns hold war – wieder ausgespuckt werden würden.
Yuril sagte, der äußere Ring des Blutmeers läge bei günstigem Wind und ohne Zwischenfälle ungefähr drei Tage entfernt.
»Wie lange werden wir in diesem… Mahlstrom sein?« fragte Kirsig etwas kläglich.
»Zwei Tage und zwei Nächte«, erwiderte Yuril. »Wenn wir auf Kurs bleiben.«
Raistlin schien über der Karte zu grübeln. Ich wartete auf seine Entscheidung.
Flint flüsterte mir kummervoll zu: »Meinst du nicht, wir sollten die langsamere und sichere Methode in Betracht ziehen? Wir haben doch wirklich keinen Beweis, daß Sturm, Caramon und Tolpan unmittelbar in Gefahr sind.«
Raistlin warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Flint sah zu Boden und zupfte an seinem Bart.
Ich wußte, daß mein alter Freund nicht weniger um die anderen besorgt war als Raistlin und ich. Ich klopfte ihm auf den Rücken und flüsterte: »Dadurch kommen wir schneller von diesem Schiff runter.« Dann sprach ich mich für den Plan aus.
Raistlin nickte zustimmend, und Kirsig überraschte mich mit einer Umarmung. Ich wagte keinen erneuten Blick auf Flint, denn ich wußte, daß der Zwerg, der sich seiner vorherigen Bemerkung schämte und wütend war, auf einer Seereise festzusitzen – noch dazu mit einem gebrochenen Bein –, mich finster anfunkeln würde.
Bei Einbruch der Nacht wurde die
Castor von starken Windstößen gebeutelt. Finsternis legte sich über das Wasser. Die See war kalt und schwarz und aufgewühlt. Keine Sterne schmückten den Nachthimmel. – Wir sind drei Tage vom Sog in den Mahlstrom entfernt, daher dürfte es meiner Phantasie entspringen, wenn ich schon jetzt den beständigen, stärker werdenden Zug verspüre.
ZWEITER UND DRITTER TAGHäufige eigenartige Flauten wechseln mit starkem Wind, Hagel und Regen. Wir haben in diesem Teil des Meeres keine anderen Schiffe gesichtet. Selbst bei Flaute wird unser Schiff in nördliche Richtung gezogen.
Habe ich die
Castor beschrieben?
Es ist ein Zweimaster mit zwei Segeln und Ruderbänken, die nur bei Windstille bemannt sind. Zur Mannschaft gehören ungefähr zwei Dutzend Seeleute, mindestens zur Hälfte Frauen. Alle sind Menschen und betrachten Flint und besonders Kirsig mit einigem Erstaunen, obwohl sie auf ihren Reisen schon Ogern begegnet sein müssen.
Ein paar aus der Mannschaft haben schwarze Haut, da sie von entfernten Inseln im Norden stammen, und ich beobachte sie mit vergleichbarer Neugierde. Besonders die Frauen, denn sie sind schön anzusehen, dabei aber gut trainiert und offensichtlich seefest. Sie tragen Lederkleider und Sandalen und können genausogut die Masten erklettern und die Segel einholen wie jeder Matrose.
Meistens reden sie in ihrer eigenen, rauh klingenden Mundart, obwohl fast alle von ihnen auch die Umgangssprache sprechen.
Keiner aus der Mannschaft trägt Waffen, und bisher hatten wir noch keinen Grund, welche zu benutzen. Achtern gibt es einen kleinen Waffenschrank, in dem Schwerter, Armbrüste, Bolzen, Öl, Rüstungen und der gesamte Brandyvorrat des Schiffes aufbewahrt werden.
Yuril bewegt sich ganz selbstverständlich in der Mannschaft. Wenn sie ein Kommando brüllt, rennen die anderen los, um es auszuführen. Sie hat den Bau von vier zusätzlichen Seitenrudern beaufsichtigt, die einfach gemacht sind und wie Riesenflossen aussehen. Es war Kapitän Nugeters Idee, sie gleich unter der Wasseroberfläche beidseitig an den Enden des Schiffs anzubringen. Wenn wir den trügerischen Randbezirk des Blutmeers befahren, sollen sie die
Castor stabilisieren und, wie wir hoffen, durch die schlimmsten Böen führen, die ganz sicher vom Mahlstrom her kommen werden.
Mit den Extrarudern kommt ein ausgeklügeltes System aus Seilen und Winden an Deck, die an Holzblöcken festgemacht sind, welche wiederum auf das Deck genagelt wurden. Zwei Matrosen haben sich freiwillig gemeldet, an der Seite des Schiffes baumelnd den Kopf unter die krachenden Wellen zu stecken, damit die zusätzlichen Ruder sicher befestigt sind. Am Abend erhielten sie Sonderrationen, und ihre Kameraden ließen sie hochleben.
Kapitän Nugeter steht mit hoch erhobenem Kopf über allem. Er sagt sehr wenig, und es ist fast, als ob Yuril das Kommando hätte. Aber er schilt sie, wenn sie langsam ist, und lacht laut, wenn sie ihm als Antwort eine Beleidigung an den Kopf wirft.
Abgesehen vom Hauptdeck und der Kapitänskabine hat die
Castor eine kleine Kombüse mit Trinkwasser und Vorräten, den Waffenschrank, das untere Deck mit den Ruderbänken, die Mannschaftsunterkünfte (welche die Mannschaft abwechselnd nutzt) und einen Frachtraum. Soweit ich weiß, haben wir nichts dabei außer Nahrungsmittel, Reparaturmaterial und die bereits erwähnte Waffensammlung.
Neben dem Frachtraum ist eine Gefängniszelle, die seit unserem Aufbruch in Ogerstadt leer steht, und eine kleine Kabine für den Steuermann, in der Yuril schläft – falls sie einmal schläft. Sie scheint rund um die Uhr an Deck zu sein. Wenn der Kapitän selber schläft, ist sie Auge und Ohr für ihn.
Zum Glück gibt es vier kleine Kabinen für Passagiere, je eine für Raistlin, Flint, Kirsig und mich. Sie sind schlicht eingerichtet, jede mit Hängematte, Bank, Fenstertruhe und Tisch.
Raistlin verbringt freiwillig viel Zeit allein in seiner Kabine. Ich vermute, der junge Majere sammelt seine Kräfte für die Strapazen, die vor uns liegen. Die wenigen Male, die ich ihn an Deck sah, wirkte er nachdenklich. Sicher sorgt er sich um seinen Bruder.
Flint hat ebenfalls den größten Teil der ersten drei Tage in seiner Kabine verbracht, allerdings unfreiwillig, denn er ist durch sein verletztes Bein etwas lahmgelegt. Ich bin nicht sicher, ob er bei seiner Abneigung gegen Wassermassen unglücklich ist, so festzusitzen; bei Flint ist das schwer zu sagen. Selbst wenn er unendlich glücklich ist, murrt er ja unentwegt.
Kirsig hat Flints Bein gut behandelt. Die Schwellung ist zurückgegangen und die Verfärbung verblaßt. Es hat sich herausgestellt, daß sie ein paar nützliche Kenntnisse im Heilen besitzt. Ich glaube, bis wir den äußeren Ring des Mahlstroms erreicht haben, wird mein Freund wieder laufen können.
Kirsig lehnt es ab, von Flints Seite zu weichen. Sie ist völlig vernarrt in ihn. Sie streichelt seine Haare und seinen Bart und nennt ihn ihren »hübschen Zwerg«. Je nachdrücklicher er sie loszuwerden versucht, desto fester klammert sie sich an ihn.
Die anderen an Bord stehen der Halbogerin nicht so ablehnend gegenüber. Gestern (am zweiten Tag) ist einer der Seeleute von einer hohen Rahe gefallen und hat sich eine häßliche Wunde zugezogen. Er blutete heftig aus der Seite. Kirsig wurde an Deck gerufen, und sie hat die Wunde mit nichts als einer Nähnadel sauber geschlossen. Bis dahin hatte Yuril die Halbogerin eher mit amüsierter Gleichgültigkeit betrachtet. Jetzt fällt mir auf, daß sie Kirsig – im Gegensatz zu anderen – morgens begrüßt und sich ihr respektvoll nähert.
VIERTER TAGDas Wasser ist so unheilschwanger wie der Himmel. Hier, im äußeren Ring des Blutmeers, ist seine Farbe ein dunkles Blutrot. Die Wellen rollen in langen Wogen.
Raistlin hat erklärt, daß die Farbe des Wassers von der roten Erde der fruchtbaren Felder stammt, die einst die Stadt Istar umgaben. Seit Istar bei der Umwälzung zerstört wurde, wirbelt der Mahlstrom, der hier fließt, unablässig diese Erde auf, die das Wasser rot färbt und dem Blutmeer seinen Namen gibt, so daß alle an das Schicksal der berühmten Stadt erinnert werden, die darunter begraben liegt.
Als Kapitän Nugeter das mitbekam, hat er die Nase gerümpft und gesagt, die Farbe des Meeres käme vom Blut der vielen tausend Menschen, die eingeschlossen wurden und ertranken, als die Götter ihren Zorn an der Stadt Istar ausließen.
Flint ist jetzt auf und humpelt herum; sein Bein wird kräftiger. Er kam mittags zu uns an Deck, als sich auf dem Schiff Unruhe ausbreitete. Die Matrosen standen in Grüppchen zusammen, zeigten aufgeregt nach vorn und stritten über die Vorzeichen in Meer und Himmel.
Einer aus der Mannschaft, ein kräftiger, weitgereister Mann, beharrt darauf, daß man in dieser Gegend im Himmel über dem Blutmeer schon Drachen gesichtet hat. Als seine Kameraden nachbohrten, gab er zu, daß er noch nie zuvor so nah am äußeren Ring gesegelt war und daß es sich um Erzählungen aus den Tavernen von Blutsicht handelte.
Die anderen verhöhnten ihn, nachdem er dies eingestanden hatte, aber mir fiel auf, daß Raistlin ihm aufmerksam zugehört hatte. Auf seinem gespannten Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck.
»Drachen!« schnaubte Flint. »Als nächstes kriegen wir was von Djinns zu hören, die drei Wünsche erfüllen!«
Später am Nachmittag befanden wir uns im Griff einer starken Strömung, die uns nach Nordwesten zog. Kapitän Nugeters Anweisungen lauteten, jede Gegenwehr zu lassen, die Segel einzuholen und mit dem Strom zu gleiten. Die erste Schicht der Mannschaft nahm ihre Positionen an der Reling ein. Kleine Gruppen waren eingeteilt, an einem der Anker oder den Rudern oder den zusätzlichen Steuerrudern zu bleiben. Aber sie hatten den Befehl, vorläufig nichts zu tun, sondern das Schiff vom äußeren Ring ansaugen zu lassen.
Die
Castor wurde immer schneller mitgerissen. Der Himmel über uns hatte sich so verdüstert, daß es schwer zu sagen war, ob Tag oder Nacht herrschte, wenn man seinen Augen vertrauen wollte. In der Luft knallten Donnerschläge, Blitze zuckten, und hin und wieder traf uns peitschender Regen.
Kapitän Nugeter nahm das Ruder in die Hand. Wir alle sahen ihn auf dem Achterdeck stehen und das Ruder heftig hin und her werfen, um die Bewegung des Schiffes auszugleichen und es nicht in den Strudelring hineinziehen zu lassen. Was auch immer die Mannschaft zu tun hatte, wir alle warfen verstohlene Blicke auf den Kapitän, denn wir wußten, daß hinter dem Strudelring die See der Schrecken liegt, jener Ort, wo Istar unter dem grimmigen Blutmeer ruht. Kein Seefahrer soll sich je hinter den Strudelring gewagt haben und zurückgekehrt sein, um davon zu berichten.
Mir fiel auf, daß Kirsig loslief, um Yuril zu unterstützen, die von Posten zu Posten gehen mußte, um die Seeleute zu beruhigen. Die Halbogerin hüpfte neben der größeren, muskulöseren und hübscheren Frau entlang, was einen seltsamen Kontrast ergab. Die Seeleute hatten ihren Spaß an ihrem irgendwie komischen Auftreten, doch sie tat ebensoviel wie Yuril, um die Disziplin aufrechtzuerhalten.
Flint und ich liefen zu leeren Ruderbänken, um unsere Muskelkraft einzusetzen, falls Not am Mann war. Ich muß sagen, daß Flint seine Angst vor der See tapfer bezwungen hat, und obwohl sein Gesicht in dieser Situation weiß wurde, stand er bereit, um zu helfen, wo er nur konnte.
Raistlin klammerte sich an einen großen Mast. Zwar wurde er vom böigen Wind durchgerüttelt, doch er war entschlossen, dazubleiben und zu beobachten, was auch geschehen mochte.
VIERTER TAG: ABENDAls es noch finsterer wurde, wußten wir, daß die Nacht hereingebrochen war, und mit ihr kam das volle Ausmaß des Schreckens. Der Himmel zerbarst vor Donnern, die See schien von den Blitzschlägen in Flammen zu stehen, und eisiger Regen prasselte seitlich auf uns herunter. Die Wellen türmten sich hoch nach oben, um dann gewaltsam über den Decks zusammenzuschlagen. Einmal hörten wir Schreie, um später zu erfahren, daß ein unglücklicher Seemann über Bord gegangen war. Das Schiff tanzte wie verrückt herum, und in der Schwärze der Nacht gab es keine Möglichkeit, die
Castor sicher auf Kurs zu halten. Der Wind heulte hinter uns, vor uns, um uns herum, einfach nicht einzuschätzen. Yuril hatte den Kapitän abgelöst und stand am Ruder, als das Schlimmste begann. Bald gesellte sich Nugeter zu ihr, und die beiden bemühten sich, das Rad davon abzuhalten, sich wie verrückt zu drehen. Sie schrien sich an und verfluchten sich und alle Elemente, während sie im verzweifelten Bemühen, das Schiff zu halten, das Steuerruder umschlangen.
Die fortwährenden Windstöße trieben Eisregen auf das Vorder- und Achterdeck. Es mußte geschöpft werden. Am schlimmsten war, daß durch den Sturm, das Schöpfen und die Unsicherheit die ganze Nacht keine wirkliche Ruhe und kein Essen möglich war. Beide Schichten arbeiteten nebeneinander her, obwohl sie müde, kalt bis in die Knochen und voller Furcht waren.
Ich stritt mit Raistlin herum, weil ich darauf bestand, daß es letztlich besser wäre, wenn er sicher unter Deck bliebe. Er wollte nicht hören. Am frühen Morgen jedoch, als der Sturm etwas abflaute und einige von uns eilig eine Mütze Schlaf nahmen, sah ich, daß er an seinem Platz zusamengesunken war.
Kirsig half dem jungen Zauberer eilig nach unten in seine Kabine. Flint und ich folgten bald darauf, denn wir zitterten im Wind und im Regen. Von meiner Kabine aus konnte ich Raistlin hören, der sich in unruhigem Schlaf murmelnd hin und her warf.
Wir schliefen alle unruhig, denn die Irrfahrt des Schiffes ließ unsere Angst wachsen.
FÜNFTER TAGTag und Nacht wird das Wetter schlimmer und die Gefahr, in der wir schweben, größer. Nach kurzer Pause kehrte der Sturm mit voller Wucht zurück. Riesige Wellen klatschten auf das Schiff, und heftiger Regen durchnäßte uns bis auf die Haut. Wir mußten uns jedes Wort in die Ohren schreien, wegen des krachenden Donners.
Obwohl Nugeter am Ruder ausharrte, konnte ich mir nicht vorstellen, daß seine Bemühungen irgendwelche Auswirkungen hatten. Die
Castor schien wie ein Korken in der Gischt herumgeworfen zu werden. Der Angriff des Blutmeers ließ uns taumeln wie Betrunkene.
Das brodelnde Chaos ließ nicht nach. Am späten Nachmittag erklärte Kapitän Nugeter mit brennenden, rotgeränderten Augen, daß wir in den Strudelring geraten waren. Jetzt, sagte er, war es zwingend notwendig, daß wir den Griff der Strömung durchbrachen und die
Castor irgendwie wieder nordöstlich in den äußeren Ring lenkten.
Sonst würden wir in den Mahlstrom gezogen werden.
Nugeter befahl Yuril, von Deck zu gehen. Sie mußte nach unten gehen und schlafen. Bisher hatte sie sich geweigert, sich von irgend jemandem in ihre Arbeit reinreden zu lassen. Allein hielt der Kapitän bis zum Abend die Stellung. Ich werde nie vergessen, wie er an jenem Tag beim Steuern ein herzhaftes Seemannslied schmetterte, das ich noch nie von jemand anderem gehört hatte. Seine unerschütterliche Zuversicht im Kampf mit dem Schiff schien die anderen Seeleute anzustecken, die trotz der Härte der Elemente nicht von ihren Posten wichen.
Der Kapitän beorderte einige aus der Mannschaft an die Ruder und andere ans kleinste Segel. Bestärkt durch Nugeters laute Befehle, gelang es der Mannschaft irgendwie, die
Castor in den äußeren Ring zurückzuhieven.
Gegen Mittag tauchte Raistlin an Deck auf. Obwohl er offenbar immer noch müde und erschöpft war, wirkte er dennoch aufgeregt. Ich sah, daß seine Stärke und Entschlossenheit zurückgekehrt waren. Ich fragte ihn, wie lange wir das noch aushalten mußten.
»Meiner Schätzung nach haben wir ungefähr einhundertfünfzig Meilen geschafft«, antwortete der junge Zauberer. »Das heißt, daß wir weitere einhundertfünfzig vor uns haben, bevor wir versuchen, aus dem äußeren Ring auszubrechen, und ins Nördliche Blutmeer gelangen.«
»Noch eine Nacht und ein Tag«, schätzte Kirsig, die hinter dem Majerezwilling aufgetaucht war.
»Wo ist Flint?« fragte ich sie.
»Da drüben.« Die Halbogerin zeigte stolz auf einen Mast, wo Flint im Sitzen völlig durchnäßt mit mürrischem, aber entschlossenem Gesicht eines der Seile festhielt, die die Seitenruder hielten.
FÜNFTER TAG: ABENDEine Nacht, die uns an die Grenzen unseres Durchhaltevermögens brachte. Der Wind heulte, als er die See in einen schwarzen Vorhang aus blendendem Sprühregen verwandelte. Der Donner krachte pausenlos, und einmal trafen Blitzkugeln das Deck, fällten einen Nebenmast und brachen den Hals des armen Seemanns, der darunter stand. Wir mußten uns an Stangen und Haken binden, um nicht in das tobende Wasser gespült zu werden. Keiner schlief. Selbst eine kurze Pause wurde durch brutale Unterbrechungen unmöglich gemacht – ein Blitzschlag, ein Donnergrollen, peitschender Regen oder etwas Hartes, das der unaufhörliche Wind uns ins Gesicht schleuderte.
Immer noch klammerten sich Kapitän Nugeter und Yuril am Ruder fest.
SECHSTER TAGZwei Mitglieder der Mannschaft haben wir im Kampf mit dem Blutmeer verloren. Der Rest sehnt sich angesichts der Aussichten auf das nicht enden wollende Unwetter fast danach, sich dem wütenden Mahlstrom, zu ergeben.
Raistlin ist fast den ganzen Tag erschöpft in seiner Kabine geblieben. Flint wurde mit tiefliegenden Augen und triefnassen Brauen von Yuril nach unten geschickt, als sie seine Benommenheit bemerkte.
Gegen Mittag flaute der Sturm kurz ab. Inzwischen wußten wir schon, daß es anschließend einen furchtbaren, neuen Ausbruch geben würde.
In der Stille hörten wir Stöhnen, Schreie und gackerndes Lachen, das vom Wind herangetragen wurde. Das Schiff begann, sich mit erschreckender Geschwindigkeit zu drehen. Es war schlimmer als alles, was wir bisher erlebt hatten.
Die Mannschaft stand fast hysterisch da und zeigte ins aufgewühlte Wasser. Ich sah nichts, aber sie erzählten von grausigen Dingen – grinsenden Fratzen, Klauenhänden und spitzen Hörnern –, die gegen das Schiff stießen, damit es sich um sich selbst drehte.
Yuril befahl ihnen laut, an ihre Posten zurückzukehren. Kapitän Nugeter selbst war ebenfalls kreidebleich vor Entsetzen, doch seines rührte nicht von Einbildungen her.
»Wir sind zu weit! Wir sind im Strudelring und nähern uns der See der Schrecken!« schrie er mit angstverzerrtem Gesicht. »An die Ruder! Werft den Anker! Fertigmachen – «
Seine Stimme ging in dem sich erhebenden Tosen fast unter. Ein roter Nebel erhob sich aus dem Meer, trieb über das Deck und drang durch die Ruderlöcher herein. Kleine, rote Blutteufel mit ledrigen, fledermausartigen Flügeln, gegabelten Schwänzen und gekrümmten Hörnern erhoben sich aus dem Nebel und schwärmten die Masten hoch, um an der Takelage zu zerren und Seile zu lockern. Ihre Haut war dunkelrot wie das Blutmeer selbst, ihre langen Zähne glänzten weiß.
Mit ihrem Gekicher, Geschrei und Getobe entfesselten sie eine Panik auf dem Schiff.
Einige Männer rannten los, um gegen die Männchen zu kämpfen, doch der Kapitän rief ihnen zu: »Ihr Dummköpfe, das sind Illusionen!«
Illusionen, na gut, aber im nächsten Augenblick sah ich, wie zwei von ihnen einen Seemann packten und über Bord warfen.
Ich konnte Raistlin ausmachen, der auf der Treppe zu unseren Kabinen stand. Er senkte den Kopf, bewegte die Hände und murmelte einen Spruch. Zu meinem Erstaunen verschwanden die Klabautermänner, obwohl der rote Nebel blieb. Gleich darauf war der junge Magier nicht mehr zu sehen. Kaum einer hatte mitbekommen, was er getan hatte.
In der Zwischenzeit brach der Sturm mit aller Wucht wieder los.
Flint kämpfte sich zu mir durch. So entsetzt hatte ich ihn noch nie erlebt. »Was sollen wir machen?« schrie er.
Einen Augenblick lang war ich unsicher. »Da!« schrie ich. Wir sahen, wie sich Yuril mit ein paar anderen Seeleuten abmühte, den schweren, klauengleichen Anker zu lösen, was durch den heftigen Wind und den Regen um so schwieriger war. Wir liefen hin und landeten neben Kirsig, die sich zu einem Grinsen zwang, als sie ihre ganze Kraft in die Arbeit einbrachte.
Ich merkte, wie unter uns die Ruder zu ziehen begannen, aber ich hörte auch, wie einige von ihnen in der Wucht der Strömung und der Wellen zerbrachen.
Das Schiff tanzte wild hin und her. Einige von uns, einschließlich mir, fielen aufs Deck.
»Jetzt!« rief Kapitän Nugeter.
Nachdem wir wieder standen, gelang es uns, den Anker über die Seite zu hieven. Das dicke Seil spulte sich so schnell ab, daß einer der Matrosen einen Eimer Wasser darüber ausleerte, damit es sich nicht entzündete. Minutenlang sackte es in blutrotes Wasser und erreichte fast das Ende des Rads, ehe es endlich den Grund traf.
Erstaunt rief Yuril aus: »Noch nie habe ich von einer solchen Tiefe gehört!«
Wie Kapitän Nugeter erwartet hatte, stabilisierte der Anker das Schiff kurzfristig. Aber wegen des Winds und des Sturms zerrte die
Castor am Ankerseil und drohte es durchzureißen.
Flint stand daneben und hielt eines seiner kurzen Beile bereit. Als Kapitän Nugeter »Jetzt!« schrie, schlug der Zwerg zu und durchtrennte das Ankertau mit einem sauberen Hieb. Die Spannung des Seils war so stark, daß das Schiff jetzt praktisch mehrere hundert Fuß durch die Luft sprang und so dem Sog entkam.
Zur selben Zeit waren Yuril und ich bei den Matrosen auf dem Achterdeck angelangt, die die Extraruder bereithielten.
Gerade als das Schiff herunterkrachte und bevor es wieder in der Strömung gefangen werden konnte, ließen wir die neu gebauten Ruder los. Bei einem Blick über die Seite konnte ich sehen, wie sie ins Wasser fielen und wie Delphine hinter dem Schiff hertanzten.
»Jetzt!« schrie Kapitän Nugeter wieder über das Toben des Sturms.
Ich merkte, wie die Rudermannschaft mit vereinten Kräften pullte, und diesmal sauste das Schiff aus eigener Kraft in nordöstliche Richtung. Indem jeder verfügbare Seemann und jede Frau an den Rudern saß, hielt die Mannschaft die
Castor auf Kurs Nordost und schob sie weiter und weiter vom gefährlichen Kern des Blutmeers weg.
SIEBTER UND ACHTER TAGDas Schlimmste war vorbei. Jetzt hielten wir über Feuerwasser auf Mithas und Karthay zu. Die Seeleute feierten ihren Sieg über den Mahlstrom. Seltsam wild sahen sie aus mit ihren salzverkrusteten Lippen und den Tangfetzen in den Haaren.
Kapitän Nugeter ließ jedem von uns eine Ration Brandy als eine Art Belohnung zukommen.
Das Schiff hatte überraschend wenig Schaden genommen, wenn man bedachte, welch eine Schlacht wir hinter uns hatten. Ein Mast und eine Reihe Ruder waren gebrochen. Teile, die der Sturm herumgeweht hatte, hatten einige Segel zerfetzt, obwohl sie aufgerollt gewesen waren. Kirsig machte sich beim Nähen nützlich, und auch ich kenne mich damit etwas aus. Gemeinsam flickten wir die Segel. Die Männer rissen sich gerne ihre Hemden vom Leib, um grobe Flicken zu liefern.
Ein paar Matrosen durchstreiften das Schiff und kümmerten sich um Lecks, die aber alle harmlos waren.
Flint setzte sich in den Kopf, einen Ersatzanker zu bauen, der reichen mußte, bis die
Castor wieder einen Hafen anlief. Nachdem er Bleistücke und anderes weiches Metall aus dem Schiff zusammengesucht hatte, schmolz er alles in einem riesigen Topf zusammen und konnte es zu einem gesprenkelten Senkgewicht hämmern, das Yuril zufriedenstellend fand. Der neue Anker wurde an die Stelle des alten gelegt.
Die Wellen waren weiterhin hoch und stürmisch. Das Wasser hatte sich nur leicht geklärt; es hatte immer noch jene beunruhigende, rostrote Farbe. Obwohl es harte Arbeit war, die
Castor zu reparieren und auf Kurs zu halten, fühlten wir uns alle sehr erleichtert.
Wir hatten starken Rückenwind. Über uns schien eine Sonne, die täglich heißer wurde. Am Himmel bildete sich Dunst, der nicht weichen wollte.
ACHTER TAG: ABENDRaistlin ist über Tag in seiner Kabine geblieben und läuft nachts an Deck auf und ab. Flint und ich haben festgestellt, daß er uns nicht alles gesagt hat, was ihn beschäftigt.
Heute nacht, es war eine schwarze, Sternenlose, bedrückende Nacht, fand ich ihn auf dem Vorderdeck, wo er stand und in die unruhige See hinausstarrte. Als er mich hinter sich hörte, drehte er sich um und schenkte mir ein leises Lächeln – wenig ermutigend, aber ausreichend für mich, seine Andacht kühn zu unterbrechen.
»Du mußt dich sehr um Caramon sorgen«, fing ich freundlich an.
Zu meiner Überraschung zog der junge Magier eine Augenbraue hoch, als läge ihm dieser Gedanke völlig fern. »Caramon«, sagte er zu mir mit seiner üblichen Schroffheit, »kann für sich selber sorgen. Wenn er nicht in der Straße von Schallmeer umgekommen ist, bin ich ziemlich sicher, daß wir ihn irgendwo in diesem verwünschten Teil von Krynn finden werden. Es ist wahrscheinlicher, daß er uns rettet, als daß wir ihn retten.«
»Aber ich dachte«, setzte ich an, »wir hätten den ganzen Weg zurückgelegt, weil du glaubst, daß er von Minotauren gefangengenommen wurde.«
»Ja… teilweise«, sagte Raistlin. Er wollte etwas anderes sagen, hielt dann inne, vielleicht um seine Gedanken zu sammeln, vielleicht um einfach den Mantel enger um sich zu schlingen und die nächtliche Kälte abzuhalten. »Aber«, fuhr er kurz darauf fort, »es gibt wichtigere Dinge zu bedenken als das Schicksal meines Glückspilzes von Bruder. Da wäre noch der Grund, warum er entführt wurde, und dann dieses seltene Kraut, die Jalopwurz.« Sein Tonfall war sehr ernst. In der Dunkelheit konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.
Ich kam näher, weil ich ihm das Geheimnis entlocken wollte.

»Was also ist es, Raistlin?« fragte ich. »Welchem Zauber jagen wir über Tausende von Meilen hinweg nach?«
Er drehte sich zu mir um und musterte mich durchdringend. Er schien meine Frage erst zu überdenken, denn er ließ sich mit der Antwort Zeit: »Der Spruch, auf den ich gestoßen bin, kann nur von einem hohen Kleriker des Minotauren gesprochen werden. Es ist ein Spruch, der ein Portal öffnet und den Gott der Stiermenschen, Sargonnas, Diener der Takhisis, in die Welt einläßt.«
Jetzt war es an mir, schweigend zu überlegen. Als Magier glaubte Raistlin an die Götter des Guten, die Götter der Neutralität und die Götter des Bösen, deren höchste Göttin Takhisis war. Obwohl ich in meinem Leben sowohl Gutes als auch Böses gesehen habe, war ich mir wegen der Götter nicht so sicher wie der junge Magier. Sargonnas war ein Gott, über den ich wenig wußte.
Vielleicht merkte Raistlin meine Zurückhaltung, jedenfalls wandte er sich seufzend ab. »Das ist noch nicht alles«, sagte er. »Dieser Spruch kann nur bei bestimmten Konjunktionen von Mond und Sternen gesprochen werden. Es ist ausgesprochen umständlich, alles vorzubereiten. Das kann nur heißen, daß die Stiermenschen ein Ziel haben, das wichtig genug ist, um Sargonnas’ Hilfe anzurufen. Morat glaubt – und ich stimme ihm zu –, es müsse sich um einen Plan für die Eroberung ganz Ansalons handeln.«
»Aber das würde den Minotauren doch nie allein gelingen, ganz gleich, wie viele sie sind oder wie gut organisiert«, wandte ich ein.
»Richtig«, sagte Raistlin. »Aber wenn sie nun Bündnisse mit unüblichen Verbündeten schließen – mit den bösen Rassen des Meeres oder den Ogern zum Beispiel?«
»Sie sind zu arrogant«, wehrte ich ab, »diese Rasse würde niemals Bündnisse schließen.«
»Das ist vielleicht nicht wahr«, sagte Kirsig, die aus den Schatten trat. Die Halbogerin hatte die Angewohnheit, sich an einen heranzuschleichen, aber Raistlin hegte eine merkwürdige Sympathie für sie und schien sich nicht an ihrer Gegenwart zu stören. Auch nicht an der offensichtlichen Tatsache, daß sie uns belauscht hatte.
»Das könnte einiges von den seltsamen Dingen erklären, die in den letzten paar Monaten in Ogerstadt vor sich gingen«, fuhr Kirsig fort.
»Was denn?« fragte Raistlin interessiert.
»Delegationen – ganze Galeeren – von Minotauren kamen zu Besuch, um mit den verschiedenen Ogerstämmen zu verhandeln. Das ist höchst ungewöhnlich. Ich habe noch nie zuvor von Freundschaft zwischen Ogern und Minotauren gehört. Normalerweise war es nämlich gerade umgekehrt: tödliche Feindschaft.«
»Verstehst du, was ich meine?« sagte Raistlin zu mir, als er sich umdrehte und die Hände um die Reling schloß. Er starrte auf das dunkle Wasser und den noch dunkleren Himmel. »Caramons Schicksal ist meine geringste Sorge!«
NEUNTER TAGAm frühen Morgen dachte einer der Matrosen, er hätte im Wasser neben dem Schiff eine Bewegung gesehen. Alle waren auf der Hut, weil sie wußten, daß in diesen fremden Gewässern alles vorkommen konnte.
Gegen Mittag wurde das Tier wieder gesichtet – eine riesige, graue, schlüpfrige Form, die der
Castor zu folgen schien. Bei dem heißen, drückenden Wetter kamen wir nur langsam voran, und das Tier paßte sich unserer Geschwindigkeit an. Seine schlängelnden Bewegungen wirkten beinahe träge. Es blieb so tief unter der Oberfläche, daß wir nichts Genaues erkennen konnten, außer, daß es etwa so groß und lang war wie das Schiff selbst.
Am späten Nachmittag hatte das seltsame Wesen uns bereits ein Dutzend Meilen weit verfolgt, ohne aufzutauchen. Diese Zurückhaltung machte uns gleichmütig. Einige Matrosen der
Castor waren unter Deck, während andere auf ihren Posten dösten, als das Ding plötzlich seinen Kopf hob und angriff.
Ich war mittschiffs, als ich hochsah und einen langen, gekrümmten, schlangenartigen Körper erblickte, der sich auf uns stürzte.
Sofort wußte ich, was es war: Ein Nacktkiemer, eine Riesennacktschnecke des Meeres, die in dieser Gegend selten ist. Ich wich gerade rechtzeitig hinter eine Vorratskiste zurück, denn die Schnecke schlug mit ihrem aufgerissenen Maul aufs Achterschiff und spie gleichzeitig einen dicken Strom ätzenden Speichels aus.
Die
Castor schwankte. Jeder, der stand, stürzte hin, jeder, der schlief, schreckte hoch. Eine aus der Mannschaft hatte keine Zeit gehabt, der sauren Spucke auszuweichen. Sie schrie und wälzte sich auf dem Deck, weil der Schmerz unerträglich war. Ein anderer bemerkte den Nacktkiemer nicht rechtzeitig und wurde verschlungen.
Wer den Angriff gesehen hatte, schrie um Hilfe, und die anderen kamen mit Waffen angerannt, die im Vergleich zu dem enormen Körper des Nacktkiemers lächerlich winzig aussahen. Kapitän Nugeter rannte von unten herauf und schrie Befehle. Yuril hatte am Ruder gestanden. Jetzt hockte sie neben mir und starrte das Ungeheuer entsetzt an.
Unter unseren Augen hob die Riesenschnecke ihren häßlichen, tentakelbewehrten Kopf so hoch, daß wir ihren tödlich weißen Unterleib sehen konnten, und warf sich dann aufs Deck. Sie benutzte ihren Körper wie einen Rammbock. Holz splitterte in alle Richtungen auseinander. Der Nacktkiemer war halb an Deck, halb in der See. Das Schiff legte sich gefährlich schief.
Minutenlang tauchte der Kopf der Riesenschnecke unter Deck, wo wir ihn nicht sehen konnten. Grauenhafte, schlürfende Geräusche und die Schreie der Seeleute, die in ihrem Quartier gefangen waren, zeigten, in welchem Blutrausch das Tier schwelgte.
»Flint!« schrie ich plötzlich.
»Pst!« sagte der Zwerg. »Ich bin genau hinter dir.«
Das war er, und Raistlin und Kirsig auch. Alle sahen staunend zu, wie die Riesenschnecke wieder den Kopf hob und noch einmal aufs Schiff knallte. Das Deck kippte steil nach oben. Mit jedem Angriff des Nacktkiemers neigte sich die
Castor bedenklicher.
»Sie frißt sich durch das Schiff«, sagte Raistlin.
»Die fressen alles«, sagte Yuril, »Pflanzen, Aas, Müll – alles.«
Vor unseren Augen sprang eine dunkelhaarige, kurzhaarige Frau aus der Mannschaft mit einem Angriffsschrei auf den Rücken der Riesenschnecke und stach mit ihrem scharfen Schwert zu. Aber die Nacktschnecke hatte eine dicke, gummiartige Haut, und die ansehnliche Klinge verursachte kaum eine Wunde. Der Nacktkiemer unterbrach seinen Angriff auf die
Castor und brachte mit erstaunlicher Geschmeidigkeit seinen Kopf herum, packte die tapfere Matrosin mit dem Mund, zerfleischte sie und warf ihren Körper dann viele hundert Schritt weit in den Ozean.
Ohne einen besonderen Plan stürmten Flint, Kirsig, Yuril und ich auf das Tier ein und stachen zu. Wir landeten nur ein paar harmlose Treffer. Andere Seeleute schlossen sich uns an. Die Riesenschnecke drehte und wand sich und warf dabei mehrere Seeleute zu Boden und bedeckte einen mit ihrem ätzenden Speichel. Wir konnten sie eigentlich nur beschäftigen und uns Mühe geben, außerhalb ihrer Reichweite zu bleiben.
Ich sah, daß Raistlin am anderen Ende des Schiffs an etwas arbeitete. Er drehte sich um und rief nach Flint.
Der Zwerg eilte zu ihm hin: Gemeinsam bückten sie sich und begannen, etwas zu uns und zu der Riesenschnecke zu zerren. Als noch zwei Matrosen hinliefen, verließ Raistlin Flint und rannte zum Ruder, wo Kapitän Nugeter damit beschäftigt war, das schief liegende Schiff unter Kontrolle zu behalten.
Raistlin beriet sich kurz mit Nugeter, welcher dem jungen Zauberer zunickte.
Jetzt konnte ich sehen, daß Flint und die Seeleute den Anker auf uns zu schleppten. Kirsig, Yuril und ich liefen hin, um ihnen beim Hochheben zu helfen. Dann warfen wir ihn auf ein Zeichen von Flint zum Kopf der Riesenschnecke.
Wie Raistlin gehofft hatte, machte der Nacktkiemer – der nicht für seine Intelligenz bekannt ist – den Mund weit auf für das, was wir in seine Richtung stießen. Im letzten Moment ließen wir los und eilten in Sicherheit.
Ein fast überraschter Ausdruck glitt über das rudimentäre Gesicht der Schnecke, als Kapitän Nugeter das Ruder scharf herumwarf und von ihr fortsteuerte. Durch die plötzliche Bewegung rutschte sie vom Deck zurück in die See. Flints Anker zog sie rasch in die Tiefe, bis wir nichts anderes mehr von ihr sahen als die Luftblasen, die an die Oberfläche blubberten.
Nach dem Angriff mußte die
Castor dringend repariert werden. Drei Matrosen waren tot, woran uns nur die Blutflecken auf dem Deck erinnerten, und Flint mußte sich an die Arbeit machen, einen weiteren Anker aus Metallresten herzustellen.
ZEHNTER TAGKapitän Nugeter sagt, wir sind nur noch einen halben Tag von der Küste von Karthay entfernt, selbst bei dem langsamen Tempo, das wir jetzt vorlegen müssen. Die
Castor ist ein halbes Wrack. Nur pausenloses Rudern hält uns über Wasser, was für die Mannschaft, die nach all den Ereignissen halbiert ist, sehr anstrengend ist. Flint, Raistlin, Kirsig und ich helfen aus.
Obwohl die Reise über das Blutmeer an Geschwindigkeit jede Hoffnung erfüllt hat, sagt der Kapitän, daß er nicht sicher ist, ob der Preis den Schaden an seinem Schiff und die Verluste seiner Mannschaft ausgleicht.
»Ich werde nicht versuchen, in Karthay zu landen«, hat Kapitän Nugeter erklärt. »Ich gehe kein weiteres Risiko ein. Ich gebe euch ein kleines Boot, in dem ihr an Land rudern könnt. Damit könnt ihr euch noch glücklich schätzen.«
Trotz Kirsigs besten Überredungskünsten weigert sich Kapitän Nugeter, von dieser Haltung abzurücken.
Raistlin hat ihm den doppelten Preis gezahlt und ihn nicht wegen der Landung bedrängt. Der Kapitän hat seinen Teil der Abmachung mehr als erfüllt, meint Raistlin, und hat sich bei ihm bedankt.
Kirsig hat die Absicht geäußert, uns zu begleiten. Flint hat versucht, es ihr auszureden – vergeblich. Sie besteht darauf, daß sie ihren »hübschen Zwerg« nicht verlassen will.
Überraschender ist, daß Yuril verkündete, daß sie auch Lust hatte, sich uns anzuschließen. Kapitän Nugeter stritt heftig mit ihr, jedoch erfolglos. Yuril sagt, sie verdankt uns ihr Leben – mindestens zweimal –, und sie will uns helfen, unsere Aufgabe zu erfüllen. Der Kapitän wirkte ebenso traurig wie wütend über diese Entscheidung. Nicht zum ersten Mal kam es mir so vor, als ob diese beiden füreinander einmal mehr als Kapitän und Steuermann waren.
Drei Matrosinnen, die alle mehr Yuril als Kapitän Nugeter ergeben waren, sagten, auch sie würden mitkommen.
Damit sind wir acht, und der wütende Nugeter mußte uns zwei kleine Boote zusagen.

Kapitel 2

Der böse Kender

Der Trank wirkte wunderbar. Tolpan Barfuß hatte sich eindeutig in einen bösen Kender verwandelt. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Von seinem früheren Haarknoten bis hinunter zu den Zehen war Tolpan durch und durch böse.

Die Minotaurenwachen waren sich nicht so sicher, ob sie Tolpan nicht lieber gemocht hatten, wie er vorher gewesen war, ehe Fesz, der Minotaurenschamane und hohe Gesandte des Nachtmeisters, ihm den Trank verabreicht hatte, der seine Kendernatur verdreht hatte.

Natürlich konnte man sie nicht mehr Tolpans Wachen nennen, jedenfalls nicht mehr im Wortsinn. Nachdem Tolpan vor Bösartigkeit strotzte, hatte man ihn vom Gefangenen zum Ehrengast des Minotaurenkönigs befördert. Er wurde in einem der oberen Stockwerke des Palasts in einem geräumigen, mit Plüsch ausgestatteten Zimmer untergebracht, von dessen Balkon aus er die unten liegende, schäbige Stadt Lacynos überblicken konnte.

Auf der anderen Gangseite lag ein weiteres, noch schöneres und geräumigeres Zimmer für Ehrengäste, das für Fesz reserviert war. Dieser mußte nämlich in Tolpans Nähe bleiben, um ihre noch junge Freundschaft zu festigen. Aus diesem Grund unterhielt er sich häufig mit Tolpan.

Eine kleine Anzahl Minotaurenwachen stand immer noch vor Tolpans Zimmer im Gang. Ihre Anweisung lautete, zu verhindern, daß Tolpan sein Zimmer ohne Erlaubnis und Eskorte verließ, doch sie waren auch angewiesen, sich nicht wie Wachen zu verhalten. Statt dessen sollten sie freundlich sein und die Wünsche des Kenders erfüllen, und sie wagten es tatsächlich nicht, dagegen aufzubegehren.

Der böse Kender war zehnmal so lästig wie der gute zuvor – das heißt, falls jemand Tolpan überhaupt jemals als »gut« bezeichnet hätte. Schlimmer als lästig, so die einhellige Meinung der Minotaurenwachen. Tolpan war von Grund auf – tja, böse.

Da er die Wachen nach Belieben herumkommandieren konnte, sorgte Tolpan dafür, daß sie ordentlich damit zu tun hatten, jeder seiner Launen nachzugehen. Und Tolpan fiel offenbar eine Menge ein, jede Minute des Tages etwas Neues.

In seiner Bosheit hatte Tolpan beschlossen, daß er dreimal am Tag zu genau festgelegten Zeiten ein heißes Bad nehmen wollte. Selbst für die minotaurischen Wachen war es harte Arbeit, die Bäder vorzubereiten und dreimal täglich die Eimer mit heißem Wasser die vielen Stufen zu den besten Gästezimmern hochzuschleppen.

Und Gnade ihnen ihr Gott, wenn das Wasser nicht heiß genug war. In diesem Fall bekam Tolpan einen schrecklichen Wutanfall, schlug ihnen den leeren Eimer auf den Kopf oder stach mit einer Vorhangstange – der besten Stichwaffe, die er zur Verfügung hatte – nach ihren Augen. Oder er beschimpfte sie mit einem erstaunlichen Schwall von Beleidigungen. Manche der Wachen konnten sich kaum noch beherrschen, weil sie Beleidigungen und Befehle von einem Kender hinnehmen mußten. Aber sie nahmen sie hin, und nach dem Schlagen und Stechen und Beschimpfen mußten sie gewöhnlich hinausschleichen und von vorn beginnen und beten, daß das Badewasser dieses Mal heiß genug sein würde.

Weil Tolpan sich ein bißchen langweilte, da er den lieben, langen Tag in seinem Gästezimmer hocken mußte, beschloß er, daß der Raum renoviert und in schöneren Farben gestrichen werden sollte. Das anfängliche Mattweiß gefiel ihm nicht, aber es fiel Tolpan sehr schwer, genau zu sagen, welche Farbe oder welche Farben der Raum haben sollte.

Zunächst befahl er zwei Wachen, sein Zimmer mit einem kräftigen Indigoblau zu streichen – bis Sonnenuntergang. Als er hinterher das kräftige Indigoblau anstarrte, das Boden, Decke und Wände bedeckte, schlief Tolpan fast ein. Also entschied er, daß kräftiges Indigoblau einen Hauch zu einschläfernd sei.

Er befahl denselben beiden Wachen, den Raum mit hellem Karmesinrot zu streichen – bis Sonnenuntergang des nächsten Tages. Die Wachen fluchten und murrten, besonders weil Tolpan nach ihnen stach, ihre Köpfe tätschelte und sie beschimpfte, während sie ackerten, damit sie zur festgelegten Zeit fertig würden.

Das helle Karmesinrot hielt den Kender bei Nacht hellwach. Also beschloß Tolpan, daß der Boden karmesinrot bleiben könnte, wenn man ein paar Teppiche darauf legte – bei Nacht würde er vom Boden sowieso nicht viel sehen –, doch die Wände müßten eine ordentliche Farbe wie Orange haben, während die Decke eine richtig böse Farbe wie Mitternachtsschwarz bekommen sollte.

Weil die beiden Minotaurenwachen ihre Sache bei den ersten beiden Malen so gut – oder auch so schlecht – gemacht hatten, wurden sie nochmals ausgewählt, Tolpans Zimmer neu zu streichen.

Alle Minotaurenwachen beschwerten sich untereinander bitterlich über Tolpan. Warum oder wann auch immer sie das Zimmer des Kenders betraten, höchstwahrscheinlich traf sie ein Wurfgeschoß, oder sie wurden von hinten gepiekst, oder sie stolperten über einen Draht, der quer durchs Zimmer gespannt war. Beleidigungen – die schlimmsten Beleidigungen, die Tolpan sich ausdenken konnte, nämlich Vergleiche mit dummen Kühen und Hornochsen – ergossen sich ununterbrochen über sie. Das Essen wurde zurückgewiesen und ihnen ins Gesicht geworfen.

Dogz, der einzige Minotaurus, dem es gelang, weder gestochen noch beleidigt zu werden, erinnerte sich traurig daran, wie nett der gute alte Tolpan gewesen war, ehe er böse geworden war.

»Tolpan Barfuß ist ein geschätzter Gefolgsmann des Nachtmeisters«, hatte Fesz erklärt. Und die Minotaurenwachen wagten keine Widerrede.

Für Fesz war Tolpans feindseliges, aggressives Verhalten der eindeutige Beweis, daß der Kender böse geworden war. Und falls sein boshaftes Verhalten nicht Beweis genug war, darüber hinaus hatte Tolpan höchst bereitwillig Fesz eine Menge über diesen dünnen, intelligenten Zauberer aus Solace erzählt, der ihn nach Südergod geschickt hatte, um von einem kräuterkundigen Minotauren das seltene Jalopwurzpulver zu kaufen.

Tolpan erzählte Fesz auch alles über seine guten Freunde, Flint und Tanis, den Halbelfen und seinen Onkel Fallenspringer, und wie er, Tolpan, beinahe mal mit einer Hand ein Wollmammut gefangen hätte. Er erzählte ihm von Sturm und Caramon, den Armen, deren Leichen inzwischen bestimmt am Grunde des Blutmeers von den Fischen gefressen wurden. Ein Glück, daß er die blöden Kerle los war, denn sie waren ehrenhaft und rein gewesen und hätten nicht in die neuen Anschauungen des Kenders gepaßt, denen zufolge die Welt dazu da war, überrannt, zerquetscht und erobert zu werden.

Der Kender redete richtig gern von seinen Freunden – »Exfreunden«, wie er sich manchmal korrigierte. Besonders gern redete er über den Zwerg, Flint Feuerschmied. Er redete so gerne über Flint, daß Fesz manchmal einen Arm um den Kender legen und ihn behutsam zu dem Thema Raistlin Majere zurücksteuern mußte, dem Feind der Minotaurenrasse und deshalb, wie Fesz ihn erinnerte, dem Feind von Tolpan.

Raistlin Majere war es, der Fesz am meisten interessierte. Dieser Mensch, der Zauberer werden wollte und der das Jalopwurzpulver gewollt hatte, weil er in einem alten

Schriftstück auf einen Zauberspruch gestoßen war. »Oh, Raistlin ist sehr schlau, ehrlich«, erzählte Tolpan
Fesz. »Ein ziemlich guter Zauberer, wenn man bedenkt,
daß er die Prüfung noch nicht abgelegt hat, aber frag’ mich
nicht, was die Prüfung ist, denn das ist etwas höchst Geheimes, und auch wenn ich mehr darüber weiß als fast jeder andere, verknote ich mir die Zunge, wenn ich nur versuche, es zu erklären. Falls Raistlin herausgefunden hat, wo
die Jalopwurz hin ist – also wo ich bin, hier in der Minotaurenstadt –, dann ist er bestimmt schon auf dem Weg hierher. Er will das Pulver bestimmt wiederhaben, und wahrscheinlich will er mich auch retten – hah! Bestimmt kommen Tanis und Flint auch mit. Mann, Flint wird einen Riesenspaß daran haben, wie böse ich bin, bis ich ihn umbringe!
Aber du hast recht, Fesz. Die eigentliche Gefahr ist
Raistlin. Ich glaube, wir beide sollten uns lieber ausdenken,
wie wir ihn fangen und würgen und erstechen. Und dann
können wir vielleicht noch etwas richtig Böses mit seinem
toten Körper anstellen, zum Beispiel – ich weiß nicht. Du
hast mehr Erfahrung als ich in solchen Dingen. Was
schlägst du vor?«
Wenn der Kender wirklich aufgeregt war – wie jetzt –,
lief er im Kreis und wippte dabei mit einem unmiß
verständlich breiten, bösen Grinsen hin und her. Dann war
Fesz hochzufrieden. Außerdem war das gewöhnlich die
passende Zeit, dem Kender eine neue Dosis von dem Trank
zu verabreichen, der ihn böse bleiben lassen würde, solange Tolpan ihn einnahm.
Tolpan war jetzt schon eine Woche ausgesprochen böse.
Fesz hatte alles aufgeschrieben, was Tolpan bezüglich Raistlin und der Jalopwurz gesagt hatte, und das Wesentliche davon über den Kanal zum Nachtmeister auf der Insel Karthay geschickt. Obwohl der Kender böse war, war er trotzdem von unersättlicher Neugier erfüllt. Er bettelte Fesz an, ihm zu verraten, wie er sich mit dem Nachtmeister ver
ständigen konnte.
Eines Nachmittags, als der Schamane einigermaßen vä
terliche Gefühle Tolpan gegenüber verspürte, nahm er den
Kender in sein Zimmer mit, um ihm zu zeigen, wo er
wohnte.
»He, wie kommt es, daß du einen größeren Raum hast als
ich?« fragte Tolpan, der sich beleidigt umschaute. »Du hast
auch schönere Bilder und größere Fenster – und zwei Fenster! Ich mag die Farben, die du dir ausgesucht hast – ein
einfaches Braun mit Dunkelgrün kombiniert, wie Bäume
und Blätter. Erinnert mich nämlich an einen Wald. Diese
blöden Minotaurenwachen haben mich mit dem Rot und
Blau und Orange ganz durcheinandergebracht. Wenn ich
zurückgehe, werde ich ihnen aber meine Meinung sagen!« Fesz legte den Arm um den zutiefst gemeinen Kender,
dem er sich mehr und mehr verwandt fühlte, und führte
ihn zum Fensterbrett. Auf dem Fensterbrett stand ein großes, rundes Glas mit ungewöhnlich umfangreichen Bienen
mit ausgesprochen langen Stacheln. Laut summend flogen
sie im Glas herum.
»Diese äußerst intelligenten Bienen bringen meine Botschaften zum Nachtmeister«, sagte Fesz eindringlich, während er Tolpans Reaktion beobachtete. »Sie können weite
Entfernungen überwinden und Nachrichten telepathisch
übermitteln. Natürlich«, er zwinkerte Tolpan verschlagen
zu, »kann man sie auch für gemeinere Zwecke verwenden, aber am nützlichsten sind sie als schnelle, zuverlässige
Nachrichtenüberbringer.«
Zum ersten Mal im Leben war Tolpan sprachlos. Sein
Kiefer klappte herunter. Von solchen Tieren hatte er auf all
seinen Reisen noch nie gehört.
Schwungvoll schraubte der Schamane den Deckel ab und
ließ die Bienen in die Luft steigen. Sie sammelten sich kurz
dicht über dem Glas, ehe sie sich zum Schwarm formierten
und in östlicher Richtung davonsummten.
»Hui!« rief Tolpan aus. »Als ich aus Südergod zurückkam, habe ich Raistlin eine magische Botschaft geschickt –
deshalb weiß er wahrscheinlich, wo wir sind –, aber ich
hatte bloß diese blöde, alte Flasche, die ich in den Ozean
werfen mußte, und wer weiß, ob sie nicht auf den Grund
des Meeres gesunken ist? Wenn ich solche Bienen gehabt
hätte, hätte ich… aber wo hätte ich sie aufbewahrt? Ich
glaube nicht, daß es eine gute Idee ist, sie in meinem Rucksack mitzunehmen, denn wenn das Glas zerbricht, dann – « Erfreut über den unablässigen Redefluß von seiten des
Kenders schrieb Fesz diese neueste Mitteilung auf, während Tolpan weiterbrabbelte. Das würde in seinen nächsten
Bericht an den Nachtmeister kommen.
Bis jetzt hatte der Minotaurenschamane eine ziemlich genaue Beschreibung von Raistlin Majere und dem Halbelfen
und dem Zwerg, die ihn wahrscheinlich begleiten würden.
Er hatte eine Vorstellung von den Schwächen des jungen
Magiers. Verkleidete Meuchelmörder – Minotauren wären
zu auffällig – würden nach Solace geschickt werden, falls
Raistlin noch dort sein sollte. Aber wenn Raistlin schon auf
dem Weg zu den Minotaurischen Inseln war, wäre der
Nachtmeister vorgewarnt und bereit. Dieser Raistlin war keine wirkliche Drohung, dessen war Fesz sich sicher. Aber
es konnte nichts schaden, wachsam zu sein.
Am achten Tag nach der Verwandlung des Kenders zum
Bösen, betrat Fesz Tolpans Zimmer. Er sah verwirrt aus. Er
trug ein Pergament mit einer Nachricht, die er selbst niedergeschrieben hatte. Es war eine Botschaft vom Nachtmeister, die die superintelligenten Bienen Fesz gebracht
hatten.
Da Tolpan immer glücklich war, seinen Freund zu sehen,
hüpfte er herum, um ihn mit dem Begrüßungsritual zu
empfangen, das er sich ausgedacht hatte. Dann riß er dem
Schamanen die Botschaft aus der Hand:Haben an der Küste
eine einzelne Frau gefangengenommen. Sie ist gut bewaffnet,
offenbar eine Kriegerin. Sie weigert sich, mir ihren Namen zu
sagen oder wie und warum sie hierhergekommen ist. Wir halten
sie fest. Ich vermute, daß sie diejenige ist, auf die wir gewartet
haben. Frag den Kender, ob er weiß, wer sie sein könnte.
Der Nachtmeister»Die Bienen haben heute diese Nachricht gebracht«, sagte Fesz, der seine Stierstirn nachdenklich in Falten legte. »Hast du eine Ahnung, wer diese Frau
sein könnte?«
Tolpan mußte nicht sehr lange darüber nachgrübeln.
»Oh, das muß Kitiara sein!« rief er aus. »Obwohl ich keine
Ahnung habe, wie sie so schnell nach Karthay gekommen
ist.«
»Wer ist Kitiara?«
»Kitiara Uth Matar«, sagte Tolpan. »Habe ich dir noch
nichts von ihr erzählt? Tja, ich vergesse sie meistens, weil
sie nur Raistlins Halbschwester ist. Ich will nicht witzeln,
aber wenn sie jetzt hier ist, kann das nur heißen, daß
Raistlin sie verständigt hat, also kann er auch nicht weit
sein…«
Fesz kritzelte alles mit, so schnell er konnte.Fesz und
Tolpan wurden so gute Freunde, daß sie sich manchmal am
späten Nachmittag in einen Karren, der von Menschensklaven gezogen wurde, setzten und verschiedene Stellen
in Lacynos besichtigten. Diese freundschaftlichen Ausflüge
versetzten Tolpan immer in gesprächige Stimmung, wie
Fesz feststellte – nicht, daß dazu viel vonnöten gewesen
wäre. So erfuhr der Minotaurenschamane immer mehr ü
ber den künftigen Zauberer Raistlin.
Natürlich folgten den beiden immer eine oder zwei Minotaurenwachen, die ein Stück zurückblieben. Nicht nur
aus Achtung vor dem Protokoll, sondern weil sie nicht
wollten, daß Tolpan Steine nach ihnen warf oder ihnen anderweitig zusetzte.
Durch diese Ausflüge lernte Tolpan die ganze Stadt kennen. Besonders gefielen ihm die bösen, stinkenden Orte wie
die Sklavengruben und die Arena für die Spiele.
Rund um die Stadt lagen zahlreiche Sklavengruben. Es
waren tiefe Löcher, die in den Boden gegraben worden waren, um als primitive Unterkunft für die vielen tausend
Sklaven zu dienen, die tagtäglich ihre Arbeit in Lacynos
verrichteten. Tagsüber bewohnten nur jene Sklaven – meist
etwa hundert – diese Gruben, die zu krank oder zu jung
zur Arbeit waren. Diese Zahl wuchs bei Nacht auf etwa
siebenhundert pro Grube an, wenn die Sklaven, die nach
dem harten Tagwerk noch am Leben waren, zurückkehrten.
Die Ränge der Sklaven setzten sich hauptsächlich aus Gefangenen der minotaurischen Piraten zusammen, die von
berufsmäßigen Sklavenhändlern verkauft wurden. Manche waren auch für ihre Verbrechen eine Zeitlang eingelocht. Hin und wieder gab es einen unglückseligen Elfen oder einen entehrten Minotaurus, aber keinen Kender. Tolpan stellte fest, daß Menschen in Lacynos eine unterdrückte
Rasse waren.
Dutzende von Minotaurenwachen standen um den Rand
jeder Grube herum. Der einzige Zugang war eine breite
Rampe, über welche die Sklaven zu sechst oder zu siebt
nebeneinander jeden Morgen herauf marschierten und abends wieder hinunter. Zum Schutz vor Aufständen war
die Grube von mehreren Stützmauern umgeben. Diese
konnten zum Einsturz gebracht werden, woraufhin sich
tonnenweise Erde über den rebellierenden Mob ergießen
würde.
Von einer Sklavengrube, die Tolpan besichtigte, war er
sehr beeindruckt. Er lobte ihren genialen Aufbau und stellte viele Fragen.
»Falls ich je nach Solace zurückkehre«, erklärte er Fesz,
fügte aber schnell hinzu, »nicht, daß ich das wirklich möchte, denn ich amüsiere mich hier in Lacynos wirklich prächtig. Aber falls ich je nach Solace zurückkehre, wäre es doch
eine prima Idee, so eine Sklavengrube wie die hier mitten
in der Stadt anzulegen. Ihnen allen eine Lektion erteilen.
Natürlich liegt Solace oben in den Baumkronen, und rein
praktisch gesehen weiß ich nicht recht, ob man oben in den
Bäumen eine Grube einrichten kann. Das wäre ein kleineres
Problem, an dem ich noch arbeiten muß. Aber diese Sklavengruben gefallen mir wirklich gut!«
Der Kender stand auf einem Laufgang und beobachtete
gerade eine Gruppe Sklaven, von denen einige offenbar
krank oder verwundet waren, denn sie lagen zusammengekrümmt auf dem Boden. Andere schubsten und prügelten sich. Er sah einen breitschultrigen Menschen mit zerfetzten solamnischen Kleidern, der sich stolz einen Weg
durch die Bewohner bahnte. Am anderen Ende der Sklavengrube sah er eine Klerikerin, die sich kniend um einen
der am Boden liegenden Sklaven kümmerte.
Eine der Minotaurenwachen kam zu nahe, und Tolpan
hob den Ellbogen, wodurch er ihn versehentlich über das
Geländer stieß. Der Minotaurus stürzte fünfzig Fuß tief in
die Grube. Die Sklaven stoben auseinander, als er heruntersauste und mit einem ekelhaften Krachen aufkam. »Huch! Verzeihung«, sagte Tolpan, der Fesz treu anschaute. »Ich hatte mich bloß gerade gefragt, wie es sich
wohl anhört, wenn ein Minotaurus nach so einem langen
Sturz auf dem Kopf landet.«
Der nachsichtige Fesz erwiderte das böse Lächeln des
Kenders.
Die Arena ihrerseits war architektonisch phantastisch,
auch wenn die Spiele für Tolpans Geschmack als Unterhaltung ein wenig langweilig waren. Tausende von Sklaven
hatten unter der Peitsche geschuftet, um das riesige, steinerne Gebäude mit den hohen Mauern, den eindrucksvollen Eingängen und den bequemen Zuschauerreihen zu errichten. Viele tausend weitere waren bei den barbarischen
Wettkämpfen auf der gestampften Erde der Arena umgekommen, die alle zwei Monate stattfanden und alle Einwohner der Stadt anzogen. Die Minotauren waren ganz
versessen auf ihren Nationalsport: zuzusehen, wie zwei
Gladiatoren zum Kampf auf Leben und Tod gegeneinander
antraten.
Tolpan und Fesz verbrachten einen sonnigen Nachmittag in einer Privatloge, die für den König und seine Gäste reserviert war. Die Loge lag direkt gegenüber der Eingangsrampe, die von den Katakomben heraufführte, welche als
Warteraum für die Gladiatoren dienten.
Menschenpack kämpfte gegen Menschenpack. Beide
Kämpfer trugen enge Kleider und grausame Waffen. Beide
waren schnell und stark.
Tolpan konnte sie partout nicht auseinanderhalten. Er
konnte kaum seine müden Augen offenhalten, als ihr unbarmherziger Zweikampf scheinbar stundenlang andauerte.
Jubelnde, kreischende, höhnische Minotauren und Menschenpiraten füllten das Kolosseum bis zum letzten Platz.
Es war eine festliche Atmosphäre. Manche der Stiermenschen wurden von Frauen und Kindern begleitet. Jeder jubelte dem zu, auf den er gewettet hatte.
Einer der Gladiatoren war dem Angriff des anderen ausgewichen, schlug ihm seinen Schild ins Gesicht und stieß
sein Langschwert durch seinen Hals. Das Publikum grölte
und verlangte, daß der Verlierer geköpft werden sollte. Der
siegreiche Mensch gehorchte. Dann stolzierte er in der Arena herum und unterhielt die Menge, indem er den bluttriefenden Kopf nach oben hielt.
»Überhaupt«, gähnte Tolpan, »da fällt mir etwas ein. Ich
hätte wirklich gern meinen Hupak wieder. Das ist meine
einzige richtige Waffe, und außerdem ist er für mich von
persönlichem Wert.«
»Wo ist denn dein Hupak?« knurrte Fesz fürsorglich. »Er war an meinem Rucksack«, erklärte Tolpan, »bis alles, was ich hatte, beschlagnahmt wurde. Ich hätte ihn
wirklich gern zurück.«
»Hättest du nicht auch gern den ganzen Rucksack zu
rück?« fragte Fesz.
»Na klar.«
Den ganzen nächsten Tag verbrachten sie in der Werft.
Tolpan fand das sehr interessant. Er konnte deutlich erkennen, daß sich die Minotauren eifrig auf einen großen Krieg
oder so etwas vorbereiteten. Überall lag stapelweise Bauholz. Hunderte von Menschensklaven, die von grimmigen,
waffenstarrenden Minotauren beaufsichtigt wurden, rannten eifrig wie Ameisen durch die Gegend. Sie arbeiteten mit
Werkzeugen wie Breitbeil, Säge und Bohrer.
»Bei Nacht geht die Arbeit weiter«, erklärte Fesz. »Die
Werft wird dann von Fackeln erhellt. Wir müssen für Sargonnas bereitstehen, wenn er Einlaß in diese Welt erhält.« Tolpan nickte. Er wußte bereits alles, was Fesz und der
Nachtmeister und das minotaurische Königreich im Sinn
hatten. Fesz hatte es ihm Stück für Stück erzählt, während
Tolpan Fesz von Raistlin Majere erzählt hatte.
Die Jalopwurz war Teil eines geheimnisvollen Zauberrituals, den der führende Schamane der Minotauren sprechen wollte, um ein Portal zu öffnen und den bösen Gott in
die Welt der Materie einzulassen. Sargonnas würde das
minotaurische Königreich bei seinem erklärten Ziel führen,
die minderwertigen Rassen Ansalons – also alle, die keine
Minotauren waren – zu unterwerfen.
So wie Fesz es Tolpan erzählt hatte, mußte der Spruch an
einem ganz bestimmten Tag gesagt werden, wenn Sonne,
Monde und Sterne in ganz bestimmten Winkeln am Himmel standen.
»Sehr bald«, hatte Fesz gezischt. »Sehr, sehr bald.« Da Tolpan selbst böse war, war er natürlich äußerst aufgeregt, daß ein böser Gott kommen würde. Er hoffte, er
könnte Sargonnas kennenlernen. Das war einer der Gründe, warum sich der Kender so sehr um die Freundschaft
mit Fesz bemühte.
»Bist du sicher, daß die Minotauren ohne Unterstützung
die ganze Welt erobern können?« fragte Tolpan unschuldig, während ein besorgter, nachdenklicher Ausdruck über
sein Gesicht glitt. Er sah sich auf der Werft um, wo zahlreiche Kriegsschiffe der Fertigstellung entgegensahen. Sie waren ziemlich eindrucksvoll, aber es gab so viele Menschen
und Zwerge und Elfen und Kender und Gnome und andere Rassen da drüben auf dem Festland. Vielleicht saßen die
Minotauren schon so lange auf ihren abgelegenen Inseln
fest, daß sie gar keine Ahnung hatten, welche enorme Gegnerschaft sich ihnen entgegenstellen würde.
»Sehr klug von dir, Tolpan«, sagte Fesz, der seine Stimme
zu einem leisen Grollen senkte und vorsichtshalber einen
Blick über die Schulter warf. »Nein. Obwohl wir eine mächtige Rasse sind, brauchen und suchen wir Verbündete. Wir
haben vorsichtige Abkommen mit den Ogern und ihren
Meeresvettern, den Orughi, getroffen. Wir haben diplomatischen Kontakt mit den Trollen aufgenommen, obwohl das
eine so chaotische Rasse ist. Auch zu bestimmten Barbarenstämmen. Es gibt auch bestimmte andere, ähm, Elemente,
die du nicht kennen dürftest – ich darf nicht über sie sprechen, aber sie werden sehr wichtig für unsere vereinten
Truppen sein, wenn der Eroberungsplan gutgeht.« »Was ist mit den Kendern?« fragte Tolpan ein klein wenig verstimmt. »Meinst du nicht, die Kender könnten auch
etwas beisteuern?«
»Ja, natürlich«, sagte Fesz etwas aus dem Konzept gebracht. »Ich weiß nicht, warum ich die Kender ausgelassen
habe. Kender könnten sehr hilfreich sein, wenn sie alle ungefähr so sind wie du. Wir wissen allerdings sehr wenig
über Kender und hatten sie bisher in unsere Überlegungen
nicht einbezogen.«
Tolpan plusterte sich auf. »Ich könnte vielleicht mit der
Rasse der Kender verhandeln«, sagte er. »Schließlich bin
ich in Kenderheim nicht ganz unbekannt. Jedenfalls war ich
das, als ich das letzte Mal dort war, und das war, hm, vor
zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren – vor meiner Zeit
der Wanderlust. Mein Onkel Fallenspringer ist selbstverständlich eine viel, viel bekanntere Person.« Tolpan runzelte die Stirn, als ihm etwas einfiel. »Obwohl ich nicht sicher
bin, daß Onkel Fallenspringer mitmacht, denn der ist ziemlich brummig seinen Freunden gegenüber. Mit seinen
Feinden geht er allerdings auch nicht gerade freundlich
um.« Der Kender dachte einen Augenblick nach. Dann hellte sich seine Miene auf. »Aber da ich schon eine ganze Weile nicht mehr dort war, ist es ziemlich wahrscheinlich, daß
Onkel Fallenspringer nicht mehr in Kenderheim wohnt
und somit keinerlei Problem mehr darstellt!«
»Gut«, knurrte Fesz wohlüberlegt. »Ich werde darauf
achten, dem Nachtmeister alles über die Kender und ihre,
ähm, Einsatzmöglichkeiten mitzuteilen.«
»Sag ihm, daß es meine Idee war«, strahlte Tolpan. Fesz nickte und schrieb das auf.
Als sie von der Werft zurückkamen, wartete Dogz mit
einer Botschaft des Königs. Dogz gab Fesz die Nachricht.
Tolpan jedoch sah er nicht einmal an. Der Minotaurus
schlug die Augen nieder, als würde er sich für seinen Kenderfreund schämen.
Tolpan reckte den Hals, um mitzulesen:Zwei Menschen bei
Atossa gefangen. Einer von ihnen auf unerklärliche, vielleicht
magische Weise entkommen. Vielleicht ist er der Raistlin, den ihr
sucht? Sofort dem Obersten Kreis mitteilen.

Der KönigFesz sah Tolpan fragend an.
»Hm«, sagte der Kender. »Ich weiß nicht. Ich glaube
nicht, daß es Raistlin ist. Da steht, es sind zwei Menschen.
Raistlin ist nur einer. Abgesehen davon ist Flint ein Zwerg
und Tanis ein Elf – nun ja, ein Halbelf, aber er wird nicht so
gern an sein menschliches Erbe erinnert. Darum glaube ich
nicht, daß es Raistlin ist.«
Fesz legte seine bullige Stirn in Falten.
»He, warte mal!« fügte Tolpan aufgeregt hinzu. »Vielleicht sind es Sturm und Caramon. Das sind zwei Menschen. Sie müßten tot sein, und ich glaube nicht, daß sie
zaubern können, aber vielleicht hat Raistlin Caramon ein
paar Tricks beigebracht, als sie klein waren, oder so. Ich
wette, sie sind es. Oh, Mann! Sturm und Caramon sind am
Leben. Ich frage mich, wer von ihnen geflohen ist.« »Sturm und Caramon«, knurrte Fesz. »Das sind die zwei
Männer, die ins Blutmeer geworfen wurden.«
»Stimmt.«
»Mal angenommen, sie leben noch«, überlegte der Minotaurenschamane. »Warum hätte Raistlin Caramon das
Zaubern beibringen sollen, als sie noch Kinder waren?« »Ich weiß nicht«, antwortete der Kender. »Außer vielleicht, weil sie Zwillingsbrüder sind.«
»Sie sind Brüder?« Fesz brüllte regelrecht. Selbst Dogz
zuckte zusammen. Fesz mußte seine Stimme senken und
bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Du hast mir nie
erzählt, daß Raistlin einen Bruder hat!«
Der Kender zuckte mit den Achseln. »Du hast mich nie
gefragt. Außerdem dachte ich doch, Caramon sei tot, du
nicht? Macht es etwas aus, ob Raistlin einen Bruder hat? Ich
habe dir schließlich gesagt, daß er eine Schwester hat. Na
ja, eigentlich eine Halbschwester, wenn man es genau – « »Warte!« Fesz hielt eine Hand hoch. Dann nahm er mit
einem tiefen, müden Seufzer seine Schreibfeder heraus und
begann, etwas auf ein Stück Pergament zu kritzeln. Er hielt
inne, dachte nach und sah auf Tolpan herunter. »Bevor wir
weitermachen«, sagte er mit außerordentlichem Bemühen
um Geduld, »hat Raistlin noch weitere Schwestern oder
Brüder, von denen du bisher noch nichts gesagt hast?« »Nein«, sagte Tolpan gereizt. Er wußte nicht recht, warum Fesz so aufgebracht war. »Jedenfalls nicht, daß ich
wüßte.«
»Nur Kitiara und Caramon.«
»Mhmm.«
Fesz schrieb etwas auf und steckte den Zettel in die Tasche.
»Ich frage mich, welcher geflohen ist, Sturm oder Caramon…« murmelte Tolpan.
»Wir müssen nach Atossa und es herausfinden«, erklärte
Fesz.
Tolpan grinste glücklich über das ganze Gesicht. »Nachdem ich vor dem Obersten Kreis gesprochen habe«, fügte der Minotaurenschamane hastig hinzu. »Der Oberste Kreis… hui!« rief Tolpan aus. »Ich habe
noch nie einen ganzen Kreis von Obersten Sonstwers kennengelernt. Ich kann es kaum erwarten!«
Von hinten legte Dogz dem Kender seine schwere Pranke
auf die Schulter.
»Es tut mir wirklich leid, Tolpan, mein Freund«, sagte
Fesz mit großem Ernst, »aber ich muß allein gehen. Der
Oberste Kreis wäre nicht glücklich darüber, wenn ich einen
Kender mitbrächte.«Um einen großen, runden Eichentisch
im größten Saal des Palastes saßen acht grimmige, gehörnte
Minotauren – neun, wenn man den König mitzählte, der zu
dieser dringlichen Versammlung aus seiner Hauptresidenz
in der südlich gelegenen Stadt Nethosak angereist war.
Während die anderen nur verstimmt aussahen, sprühte der
wilde König vor mörderischer Wut, die er kaum in Schach
halten konnte. Der König hatte andere wichtige Dinge vorgehabt und schätzte es gar nicht, seine Pläne ändern zu
müssen.
Im Uhrzeigersinn links vom König ging die Reihe der
acht Mitglieder des Obersten Kreises mit Inultus los, der
die Miliz und die Polizei der Minotauren befehligte. Er war
mit Emblemen und Abzeichen, die seinen Rang verrieten,
nur so gepflastert. Neben ihm saß Akz. Sein Spitzname war
Attacca, doch niemand wagte es, ihm diesen ins Gesicht zu
sagen. Er war der Befehlshaber über die minotaurische Marine. Akz haßte Inultus und umgekehrt. Ihre Feindschaft
war bekannt, doch sie waren gezwungen, zum Besten des
Königreichs politisch zusammenzuarbeiten. Akz trug
nichts auf seiner breiten, muskulösen Brust. Seine Kleidung
bestand einzig aus einem juwelenbesetzten Lederstreifen,
der seine kräftigen Lenden umgürtete.
Neben Akz saß der Älteste unter ihnen, ein runzliger Minotaurus mit grauweißen Haarbüscheln namens Victri. Er
war der Vertreter der ländlichen Minotauren, die das Land
bestellten und in den wenigen fruchtbaren Gegenden der
Inseln einsame Staatshöfe verwalteten. Obwohl die meisten Krieger, die etwas auf sich hielten, die Bauernminotauren verachteten, waren diese für die Wirtschaft und Stabilität der Inseln lebenswichtig. Außerdem hatte Victri am längsten im Obersten Kreis gedient. Jeder kannte seinen Ruf als ehrenhafter, weiser Mann. Abgesehen davon war Victri ein kühner Krieger, der sich in der Schlacht hervorgetan hatte. Da er wie ein Landmann gekleidet war, trug Victri mehr Kleider als jedes andere Mitglied des Obersten Kreises, einschließlich eines schweren Schals über seinen breiten Schul
tern.
Neben Victri saß Juvabit, ein Historiker und Gelehrter in
einer Gesellschaft, die Gelehrsamkeit nicht besonders wertschätzte. Obwohl er nach minotaurischen Maßstäben ein
gebildeter Mann war, konnte man Juvabit mit seiner häßlichen Schnauze, den gekrümmten Hörnern und den gespaltenen Hufen äußerlich nicht von den anderen unterscheiden. Das einzige, was auf seine Stellung hinwies, war eine
Quaste aus dünnen Goldfäden, die ihm über eine Schulter
baumelte. Sie symbolisierte den Orden des Königs, die
höchste Auszeichnung des Staates, und Juvabit war der
einzige Anwesende, der sich diese verdient hatte. Das
machte Juvabit allerdings höchstens noch überheblicher als
die übrigen, denn er war davon überzeugt, daß die anderen
Mitglieder des Obersten Kreises Schafsköpfe waren. Er
hielt sich nicht nur für klüger als jeden anderen, sondern
glaubte, daß er sich auch im Zweikampf gegen jeden behaupten konnte.
Neben Juvabit räkelte sich Atra Cura, dessen umfangreiche Gestalt über den großen Holzstuhl hinausquoll, auf
dem er saß. Atra Curas Aufgabe war die Überwachung der
menschlichen und minotaurischen Piraten, die durch die umliegenden Meere streiften. Sie mußten nämlich einen Anteil ihrer Beute an den König abführen – und einen Anteil dieses Anteils an ihn selbst. Außerdem hielt er die rivalisierenden Piratenbanden auseinander. Man konnte Atra Cura zu Recht als den wildesten und mörderischsten Piraten von allen bezeichnen. Als einziger unter den Minotauren des Obersten Kreises war er in grelle, bunte Farben gekleidet, die mit prächtigen Edelsteinen verziert waren. Atra Cura stellte auffällige Waffen zur Schau, darunter zahlrei
che Säbel und Messer, die an seinem Gürtel steckten. Die einzige Frau, Kharis-O, war die gewählte Anführerin
einer Bande nomadischer Minotaurenfrauen, dem Clan der
Anderen. Sie verachteten die Männer und lebten abseits
der Städte. Ihr Clan, der auf jeder der minotaurischen
Hauptinseln und selbst auf den meisten kleineren Anhänger hatte, hielt sich abseits von den organisierteren Bereichen der Gesellschaft, doch niemand bezweifelte seine
Loyalität gegenüber der minotaurischen Rasse. Im Krieg
konnte man auf sie zählen, und ihre Tollkühnheit in der
Schlacht entsprach in jeder Hinsicht der der männlichen
Krieger. Nichts an Kharis-Os ausgesprochen häßlichem
Gesicht deutete auf ihre Weiblichkeit hin. Nicht einmal ihre
Kleidung gab irgendwelche Hinweise. Sie trug enge Lederhosen unter einem kurzen Lederhemd und dicke, mit Nä
geln beschlagene Sandalen. Sie starrte jeden am Tisch finster an, sagte aber nichts.
Die letzten beiden Mitglieder des Obersten Kreises waren
Bartill und Groppis. Bartill war der Anführer der Architekten- und Baugilde und daher einer der mächtigsten Minotauren im Reich. Jeder mußte aufpassen, es sich nicht mit
ihm zu verderben.
Groppis, der Bartill in der Debatte unweigerlich unterstützte, war der Schatzkämmerer und in der Hierarchie genauso unerläßlich wie Bartill. Es war Groppis, der die Steuern einsammelte, Beutegut hortete und eine genaue Übersicht über den Staatsschatz führte. Er durfte auch ei
genmächtig über die Gehälter bestimmen.
Der neunte war der König selbst, der bereits vierzehn
Jahre regierte. Der König legte die Arroganz seines Amtes
und die entsprechende körperliche Überlegenheit an den
Tag. Um seinen Rang zu behalten, stellte sich der König
jedes Jahr in der Arena des Kolosseums seinem stärksten
Herausforderer zum Zweikampf. Der gegenwärtige König
behauptete seine Position seit vierzehn Jahren mit eiserner
Hand, indem er jeden, der ihn herausforderte, mit den
Hörnern rammte, erstach, erdolchte oder mit bloßen Händen erwürgte. Der schmale, mit kleinen Diamanten besetzte Silberreif um seine Stirn, Symbol seiner Herrschaft, würde erst dann an den nächsten König weitergegeben werden, wenn er dereinst geschlagen sein würde.
Der König und die übrigen Mitglieder des Obersten Kreises starrten Fesz an, denn sie wollten wissen, wie es mit
den Plänen des Nachtmeisters voranging und ob die ungewöhnlichen Nachrichten aus Atossa einen Rückschlag
bedeuteten.
»Ich werde morgen persönlich nach Atossa fahren«, erwiderte Fesz mit fester Stimme, »und von dort aus nach
Karthay, um dem Nachtmeister bei den abschließenden
Vorbereitungen zu helfen.«
»Ist dieser Mensch, der entkommen ist, der geheimnisvolle Magier, den ihr gesucht habt?« fragte Akz, der Marinekommandant. »Ich werde meine Flotte erst mobilisieren, wenn ich ganz sicher weiß, daß nichts das Vorhaben des Nachtmeisters verhindern kann, Sargonnas in die Welt zu
lassen.«
»Wir haben den Nachtmeister und seine Pläne äußerst
großzügig unterstützt«, stellte Schatzmeister Groppis fest. »Ich für meinen Teil«, warf Atra Cura, der Vertreter der
Piraten ein, »glaube natürlich dem Nachtmeister und vertraue ihm, aber ein paar aus dem losen Bündnis meiner
Gefolgschaft haben ihren eigenen Kopf und verlangen
mehr als mein Wort, wenn sie weitermachen sollen.« Die anderen nickten und murmelten zustimmend. Fesz ließ sich mit seiner Antwort lange Zeit. Er legte die
Hände auf den Tisch und schlug die Augen nieder, um sie
unter gesenkten Lidern hervor anzustarren. Seine Augen
glühten, seine Miene war voller Wut, doch es gelang ihm,
sich zu bezähmen und tief durchzuatmen.
»Ich bin einer der drei erwählten Schamanen des Nachtmeisters«, sagte Fesz mit leisem, drohendem Grollen. »Eure
lächerlichen Ängste entehren alle Minotauren und euren
Rang als Mitglieder des Obersten Kreises. Der Nachtmeister hat euch mitgeteilt, daß er einen bemerkenswerten Zauber wirken will, um Sargonnas, den Herrn der finsteren
Rache, in die Welt einzulassen. Für diesen Spruch wurde
viel Geld ausgegeben und viel vorbereitet. Und alles wird
nach Plan ablaufen, wenn in genau vier Tagen am frühen
Abend die Sterne im Zenit stehen und die Himmel sich
vereinen.«
Mehrere Mitglieder des Obersten Kreises hielten die Luft
an. Bisher hatte der Nachtmeister nie genau verraten, wann
er den Zauber wirken würde. Daß Fesz den genauen Tag
und die Stunde nannte, hatte den beabsichtigten Effekt, daß alle Sorgen und Einwände der versammelten Führer sich in
Luft auflösten.
»Was ist mit dem entflohenen Gefangenen?« fragte der
König.
»Ich glaube nicht, daß es sich bei ihm um diesen Raistlin
handelt«, antwortete Fesz respektvoll, »aber ich werde auf
meinem Weg nach Karthay in Atossa Halt machen und
mich vergewissern.«
»Wo ist dann dieser Raistlin?«
»Das weiß ich nicht«, gab Fesz zu. »Vielleicht kommt er
auch gar nicht. Vielleicht haben wir ihn weit überschätzt.
Auf jeden Fall glaube ich, daß Raistlin Majere höchstens ein
kleines Ärgernis darstellt, eine Mücke auf dem Arsch eines
Mammuts.«
Die acht Mitglieder des Obersten Kreises grinsten, als
Fesz den alten minotaurischen Vergleich benutzte. Der König wirkte zufrieden. »Was ist mit dem Kender?«
wollte er wissen. »Steht er noch unter dem Einfluß des Gesinnungstrunks?«
Fesz nickte. »Allerdings«, knurrte Fesz, »und er hat sich
als wirklich hilfreicher Verbündeter erwiesen. Ich habe vor,
ihn nach Atossa und Karthay mitzunehmen. Ich hoffe, ich
kann den Nachtmeister überzeugen, daß er bei dem Ritual
eine Rolle bekommt.«
Der König sah ihn skeptisch an.
»Keine Sorge«, sagte der Minotaurenschamane. »Vor
meiner Abreise werde ich sicherstellen, daß die Dosis des
Tranks verdoppelt wird.«

Kapitel 3

Die alten Kyrie

Obwohl er in dem Sack hin und her geschüttelt wurde, der seinen wiederholten Versuchen widerstand, ein Guckloch hineinzureißen, hatte Caramon nicht das Gefühl, daß er unmittelbar in Gefahr schwebte.

Der Majerezwilling glaubte, daß man ihn von dem Minotaurengefängnis weit fortbrachte, obwohl er nicht ahnte, wer seine Retter waren und warum sie ihn geholt hatten. Er war zwar froh, die Minotauren los zu sein, doch er machte sich Gedanken um Sturm, den er hatte zurücklassen müssen. Ihm wurde klar, daß er sich selbst jetzt in der Gefangenschaft von jemand anders befand. Eigentlich hatte er nur die eine Gefangenschaft gegen eine andere eingetauscht.

Seine Beunruhigung wurde die nächsten zwei Stunden nicht gerade dadurch gemildert, daß er offenbar durch die Luft getragen wurde. Caramon konnte unter sich oder neben sich nichts fühlen. Die einzigen Geräusche, die seine Ohren wahrnahmen, klangen genau wie das stetige Schlagen von Flügeln und das gelegentliche Krächzen eines riesigen Vogels.

Irgendwo im Hinterkopf meinte der junge Krieger sich daran zu erinnern, daß er ein ähnliches Krächzen schon einmal gehört hatte.

Irgendwann hatte Caramon das Gefühl, er würde aus großer Höhe herabsinken, ein Abstieg, der damit endete, daß der Jutesack, in dem er zusammengerollt hing, über steinigen Grund bumste und ratschte. Gleich darauf zog jemand den Sack auf. Auf wackligen Beinen kam Caramon heraus.

Ein atemberaubender Ausblick bot sich ihm.
Er stand auf einem Absatz in einem steilwandigen Canyon, der sich rechts und links außer Sichtweite schlängelte. In den Canyonwänden lagen wie Waben Dutzende von Höhlen, so weit das Auge sehen konnte. Und vor den Höhlen saßen wie zur Begrüßung Hunderte von Angehörigen eines alten, wundersamen Volks, dessen abgelegene Zivilisation nur wenige Menschen bisher hatten sehen dürfen.
Ein Willkommenskomitee dieser phantastischen »Vogelmenschen« stand bei Caramon auf dem Absatz. Sie waren eine Mischung aus Habicht und Mensch, denn sie gingen aufrecht auf langen, sehnigen Beinen, die mit vogelartigen Klauen endeten. Riesige, gefiederte Flügel wuchsen aus ihrem Rücken und waren an Armen und Händen befestigt. Mit wachsender Erregung dachte Caramon, doch, sie sahen genau so aus wie…
… wie der gebrochene Mann unten in der Kerkerzelle. Das war sein Volk! Diese furchtbaren Wunden an seinem Rücken und den Schultern mußten, wie Caramon nun erkannte, die Folge dessen sein, daß die Minotauren ihm die Flügel ausgerissen hatten.
Der Vogelmann unmittelbar neben Caramon war der, der den Zwilling aus der Gefangenschaft gerettet hatte. Er war größer und schlanker als Caramon. Sein bronzefarbenes Gesicht, das sehr menschenähnlich erschien, war von einer wilden Schönheit. Statt Haaren wuchsen ihm weiche, goldene Federn aus dem Kopf. Schöne, braune Stoppelfedern bedeckten seine Brust. Er trug nichts weiter als einen ledernen Lendenschurz.
»Wer bist du?« fragte Caramon seinen Retter.
»In deiner Sprache«, sagte der Vogelmann stolz in der Gemeinsprache, »heiße ich Wolkenstürmer.«
Caramon suchte nach den rechten Worten. »Was seid ihr?«
Wolkenstürmer runzelte die Stirn und trat beiseite, wobei er mit den Flügeln einen der Vogelmenschen hinter sich herbeiwinkte.
Auf Wolkenstürmers Geste hin sah Caramon einen alten Mann vortreten, den er zunächst nicht bemerkt hatte. Andere scharten sich schützend um diesen ehrwürdigen Vogelmann, der auf seinen Klauenfüßen vorschlurfte, um Caramon zu begrüßen. Trotz seines seltsamen Gangs bewegte er sich würdevoll und geschmeidig.
Die Federhaare des alten Vogelmannes waren silberweiß und flossen bis auf seine Brust herab. Die jahrelange Einwirkung der Sonne und der Elemente hatten seinem Gesicht eine dunkle Farbe gegeben, viele Falten darauf hinterlassen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters strotzten Brust und die sehnigen Beine vor Muskeln.
Leicht gebeugt und mit schief gelegtem Kopf näherte sich der Alte Caramon, wobei in seinen klaren, gelben Augen ein warmer Glanz lag. »Wir sind die Kyrie«, erklärte der Alte mit knappen, aber klaren Worten. »Ich bin Arikara – in eurer Sprache Sonnenfeder, der Anführer des Volks, das den Himmel bewohnt.«
»Kyrie?« fragte Caramon.
Sonnenfeder neigte den Kopf und blinzelte Caramon an. »Ein stolzes, langlebiges Volk«, sagte der Kyrieführer leise. »Hast du nie von uns gehört?«
Caramon warf einen Blick auf die vielen hundert gefiederten Kyrie, die ihn aus der Sicherheit ihrer jeweiligen hohen Landeplätze beobachteten. Sie murmelten untereinander, einige zeigten auf ihn. Vielleicht hatte Raistlin die Kyrie einmal erwähnt. Sein Zwillingsbruder las so viele Bücher, daß Caramon kaum mitkam. Der große Krieger schüttelte langsam den Kopf, um Sonnenfeders Frage zu beantworten.
»Das war zu erwarten«, sagte Sonnenfeder, der Caramon eine riesige Schwinge um die Schulter legte und ihn langsam zu einer Höhle führte, die in die Wand des Canyons gegraben war.
Die Höhle hatte Caramon vorher nicht gesehen, vielleicht weil die Haut, die den Eingang verhängte, sandsteinfarben war und mit der Felswand verschmolz. Einige der anderen Kyrie folgten ihnen, darunter Wolkenstürmer, sodann ein weiterer alter Mann, dessen Gesicht von Sommersprossen übersät war, und zwei Frauen, die eine älter, die andere jünger, beide in Lederröcken und Hemden, die mit Federn und Perlen verziert waren.
Der Eingang führte in eine geräumige Höhle, die sich zu einer hohen Kuppel wölbte. Heu und Zweige bedeckten den Boden der gestampften Erde. Eine Feuergrube in der Mitte, in der heiße Steine lagen, spendete Wärme. Waffen und Kochgeschirr hingen an der Wand. Pelze, die mehr als ausreichten, um die Kälte der Wüstennacht abzuwehren, waren an der Schwelle gestapelt.
Sonnenfeder nahm die beiden Frauen beiseite und gab ihnen Anweisungen in einer Sprache, von der Caramon kein Wort verstand.
Wolkenstürmer bot Caramon einen Platz an der Feuergrube an. Der andere Alte, den Wolkenstürmer als Drei Weitblick-Augen vorstellte, saß gegenüber dem Besucher. Wolkenstürmer nahm neben Drei Weitblick-Augen Platz.
Sonnenfeder setzte sich voller Tatendrang neben Caramon. Er nahm einen Stock und kritzelte auf dem Boden herum. Caramon brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, daß Sonnenfeder eine grobe Karte zeichnete. »Vor Jahrhunderten bewohnten die Kyrie viele Inseln auf Ansalon«, erklärte Sonnenfeder Caramon. »Wir sind durch die Welt gezogen und nie lange an einem Ort geblieben. Unsere langen Flüge über die Ozeane wurden durch ein magisches Gerät namens Nordstein ermöglicht. Weil wir uns immer mehr auf den Nordstein verließen, verloren wir viele unserer angeborenen Instinkte, einschließlich des Orientierungssinns. Dann verloren wir den Nordstein – er fiel in die Hände unserer erbitterten Feinde, der Minotauren.«
Die weiblichen Kyrie huschten im Hintergrund umher, wo sie offenbar das Essen vorbereiteten. Jetzt tauchte die ältere Frau hinter den drei Kyriemännern und Caramon auf und verteilte Steinbecher mit einer blassen, fleckigen Flüssigkeit. Caramon nahm seine Schale in beide Hände und schlürfte eifrig. Die warme Brühe war mit nichts zu vergleichen, was Caramon je probiert hatte – kräftig, wohlschmeckend und sofort sättigend. Er spürte, wie sie sich in seinem Körper ausbreitete, ihn aufmunterte und seinen Hunger stillte.
Das Gesicht des Kyrieführers verhärtete sich bei den bitteren Erinnerungen, als er mit seiner Chronik fortfuhr. »Mit der Zeit haben wir uns hier gesammelt«, erzählte Sonnenfeder, »die meisten von uns auf der Insel Mithas, andere vereinzelte Clans auf nahen Inseln. Obwohl wir immer noch weit und lange fliegen könnten, überqueren wir die Ozeane nicht mehr. Ohne den Nordstein sind wir in diesem Teil der Welt gefangen. Wir leben hier«, er zeigte um sich, »so gut wir können, so friedlich, wie man es uns gestattet.«
Caramon hatte zahllose Fragen, die er gern gestellt hätte. Mit zweien platzte er sofort heraus: »Was wollt ihr von mir? Warum habt ihr mich aus dem Kerker von Atossa gerettet?«
Wolkenstürmer antwortete, bevor Sonnenfeder zu Wort kam. »Ich habe dich und deinen Freund im Blutmeer halb ertrinken sehen. Ich habe getan, was ich konnte, um euer Schicksal zu erleichtern.«
Caramon riß die Augen auf. »Also du warst das!« rief er aus. »Du hast uns eine Art Brot heruntergeworfen.«
»Das war mein eigener Proviant«, sagte der Kyrie milde.
Spontan streckte Caramon die Hände aus und umfaßte die des Kyrie. »Du hast uns das Leben gerettet«, sagte der Majerezwilling voller Wärme. »Und dann hast du dein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, damit ich aus dem Gefängnis fliehen konnte.« Die Worte des jungen Kriegers entsprangen direkt seinem Herzen. »Damit stehe ich auf ewig in deiner Schuld.«
Wolkenstürmer schien sich bei Caramons ausgedehntem Gefühlsausbruch etwas unbehaglich zu fühlen. Sonnenfeder strahlte. »Wolkenstürmer ist mein Sohn«, sagte der alte Kyrie stolz. Als Caramon den Vogelmann anstarrte, der soviel auf sich genommen hatte, um ihn zu retten, schlug Wolkenstürmer die Augen nieder.
»Ich habe zwei Söhne«, fügte Sonnenfeder hinzu. »Mein Erstgeborener…« Ihm versagte die Stimme. »Mein Erstgeborener, Morgenhimmel, ist der, der… mit dir… im Gefängnis von Atossa festgehalten wurde.« Voller Kummer ließ er den Kopf hängen.
Caramon wußte nicht, was er sagen sollte. Endlich hatte er erfahren, wer der gebrochene Mann war. Seine Gefühle überwältigten ihn. Der Mann war also Sonnenfeders Erstgeborener, Morgenhimmel. Ob Sonnenfeder wußte, wie nah sein Sohn dem Tode war? Wie Morgenhimmel von den Minotauren gefoltert und gequält worden war? Ob Sonnenfeder wußte, wie tapfer und entschlossen sein Sohn war? Wie er selbst in den kurzen Unterhaltungen mit Caramon keine Angst vor seinem Schicksal gezeigt hatte?
Schweigen senkte sich über den Raum, das dann vom kläglichen Weinen der einen Frau gebrochen wurde.
»Wir wissen, wie die Minotauren Morgenhimmel behandeln«, sagte Sonnenfeder leise. »Wir wissen, daß er fast zu Tode gefoltert wurde. Wir haben wenig Hoffnung, ihn jemals wieder als freien Mann unter uns zu sehen.«
Es war, als hätte der Anführer der Kyrie Caramons Gedanken gelesen. Als er Caramons fragenden Blick bemerkte, zeigte Sonnenfeder auf seinen Kopf, und Caramon erinnerte sich an das, was der gebrochene Mann über Telepathie gesagt hatte.
»Aber warum konntet ihr nicht deinen Sohn statt meiner befreien?« fragte Caramon ernst.
»Mein Sohn ist immer angekettet«, erwiderte Sonnenfeder mit unbewegter Stimme, »außer wenn man ihn essen läßt. Sonst würde er sich umbringen. Soviel wissen die Minotauren über die Kyrie, auch wenn sie sonst wenig über uns wissen. Für einen Kyrie ist es eine Schande, lebend gefangen zu werden.«
Caramon trank von seiner Brühe. Es kam ihm nicht gerecht vor. Er war frei, während Morgenhimmel im Gefängnis gequält und geschlagen wurde. »Vielleicht«, schlug der Menschenkrieger vor, »wenn wir das Verlies stürmen…«
»Das wäre Selbstmord für alle Beteiligten«, warf Drei Weitblick-Augen ein, der sich erstmals äußerte. Das Gesicht des Alten war düster. »Wir sind ein mutiges Volk, aber wir sind keine Dummköpfe.«
»Was ist mit dem Tunnel?«
Wolkenstürmer rümpfte die Nase. »Der Tunnel ist zu eng. Es würde Stunden dauern, durch den Tunnel auch nur eine kleine Angreifertruppe in das Gefängnis zu schleusen, und eine schnelle Flucht wäre unmöglich. Wir müßten mit einem Dutzend Wachen fertigwerden, dazu mit den Ketten und Riegeln in der Zelle meines Bruders. Wir haben darüber lange nachgedacht. Wir haben es besprochen und keine Lösung gefunden.«
Der Kyrie runzelte die Stirn. Ein Schatten verdüsterte sein Gesicht. »Nein, für meinen Bruder gibt es kein Entkommen. Er ist verloren.«
Von den anderen Kyrie kam murmelnde Zustimmung. Caramon saß lange still. »Warum martern sie ihn?« fragte der junge Mann aus Solace laut.
»Wir sind seit Hunderten von Jahren mit den Minotauren verfeindet«, antwortete Sonnenfeder. »Mit der Zeit haben wir uns in diesen und anderen abgelegenen Bergen gesammelt und leben weitab von den minotaurischen Städten. Obwohl wir die Täler durchstreifen, um Nahrung zu sammeln und kleine Tiere zu jagen, ziehen wir uns immer hierher zurück. Die Stiermenschen sind zwar für Schlachten zu Land und zu Wasser gerüstet, aber sie sind zu dumm, um die Berge zu erkunden. Sie können nicht auf die hohen Gipfel klettern und uns vertreiben. Für sie sind wir ein feindliches Volk mitten in ihrer Heimat. Für uns sind sie die Pest. Während sie entschlossen sind, uns zu jagen und zu vernichten, haben auch wir uns geschworen, sie zu töten, wo auch immer sie unseren Weg kreuzen. In den letzten Monaten«, fuhr Sonnenfeder fort, »sind Minotaurentruppen in unser Territorium eingedrungen und wurden bei der Suche nach unseren Horsten kühner. Die Stiermenschen haben ein paar unserer kleineren, weiter draußen liegenden Siedlungen überfallen. Die Krieger wurden bezwungen, unsere Frauen und Kinder scharenweise niedergemetzelt. Es heißt, daß sie in einigen Fällen von fliegenden Schuppenwesen unterstützt wurden, die das Gelände vorher erkundeten und Waffen und Vorräte transportierten.«
»Drachen?« Jetzt war Caramon derjenige, der die Nase rümpfte. »Jeder weiß, daß es keine Drachen auf Ansalon gibt. Das sind Ammenmärchen, Sagen.«
»Keine Drachen«, mischte sich Wolkenstürmer ein. »Fliegende Wesen, wie es sie früher nicht gab.«
Caramon sah ungläubig aus.
»Natürlich haben wir keinen Beweis«, sagte Sonnenfeder. »Es gibt keine überlebenden Augenzeugen. Die Minotauren haben alle Kyrie getötet und alles verbrannt. Sie haben nur verbrannte Erde hinterlassen. Sie machen selten Gefangene.« Er hielt inne, gönnte sich einen Schluck heiße Brühe und fuhr fort, wobei er seine Worte sorgfältig wählte und seine Gefühle beherrschte. »Mein Sohn, Morgenhimmel, ist eine der Ausnahmen. Er wurde in einem Vorposten gefangen, den er befehligte. Sie erkannten, daß er von hohem Rang ist, möglicherweise von edler Herkunft. Von ihm wollten sie etwas über unsere Stärke, unsere Gebräuche und Rituale und die Lage unserer Zufluchtsstätten erfahren.«
Der Monolog schien Sonnenfeder erschöpft zu haben, denn sein Gesicht wurde schlaff, und er ließ die Schultern sinken. Er setzte seine Tasse Brühe ab, faltete dann die Hände und nickte Wolkenstürmer zu.
»Sie haben nichts aus ihm herauspressen können«, spie Wolkenstürmer aus, »und das werden sie auch nicht, ganz gleich, wie grausam sie ihm zusetzen. Morgenhimmel wird seinen letzten Atemzug tun, ohne ihnen auch nur seinen Namen zu verraten.«
Caramon blickte in Wolkenstürmers mattschwarze Augen, die grimmig und schicksalsergeben schauten wie die seines Bruders, des Gebrochenen. Sonnenfeder streckte den Arm aus und berührte seinen Sohn am Handgelenk. Die ältere Kyriefrau kam herüber und flüsterte Sonnenfeder etwas ins Ohr. Der alte Kyrie nickte.
»Und was ist mir dir, mein Sohn?« fragte Drei WeitblickAugen sanft, um das Schweigen zu brechen. »Wie heißt du? Was ist dir zugestoßen?«
Caramon erzählte es ihnen, ohne etwas auszulassen. Die Reise nach Südergod, der magische Sturm, die Gefangennahme von Tolpan, was Sturm und er im Meer durchgemacht hatten, ihre Gefangenschaft. Obwohl die Kyrie sich außerordentlich für die Rolle interessierten, die die Minotauren in Caramons seltsamer Geschichte spielten, konnten sie wenig dazu beitragen, das Geheimnis zu klären, warum das minotaurische Königreich sich dermaßen mit einem einzelnen Kender oder gar dem Kraut, der Jalopwurz, beschäftigte.
»Außer«, betonte Drei Weitblick-Augen, »vergeßt nicht das eine. Die Jalopwurz kommt auf Mithas und Karthay häufig vor, in anderen Teilen der Welt jedoch sehr selten, wenn überhaupt. Und wie andere Dinge auf Mithas erklären die Minotauren sie zu ihrem heiligen Eigentum und messen ihr bestimmten rituellen Nutzen zu.«
Sonnenfeder nickte weise.
Die Zeit verstrich. Jetzt brachte die junge Kyriefrau, deren Gesicht atemberaubend schön und deren rote Haare goldgetupft waren, Tassen und Schalen und stellte sie vor Caramon und die anderen.
Dem Beispiel der Kyrie folgend, tauchte Caramon seine Finger in ein Becken mit kaltem Wasser. Nach dem Waschen trocknete er sich die Hände ab. Aus den Schüsseln wählte er Nüsse, Beeren und Salat aus. Die ältere Frau tauchte hinter seinen Schultern auf und füllte ihm einen Haufen kleiner, roher Fleischwürfel auf den Teller.
Nachdem alle eine Weile gegessen hatten, sagte Wolkenstürmer: »Ein Posten hält sich ständig im Tunnel auf. Er bewacht Morgenhimmel, weil er trotz allem hofft, daß sich die Umstände ändern. Wir haben nur wenig mit ihm gesprochen, immer heimlich. Es wäre unklug, ein Risiko einzugehen. Wenn es Morgenhimmel möglich ist, spricht er mit uns. Selbst wenn die Minotaurenwachen ein paar Worte mitbekommen, verstehen sie unsere Muttersprache nicht, so daß sie es für Delirium halten. Auf diese Weise konnten wir Morgenhimmel von den zwei Menschen erzählen, die gefangengenommen und in den Kerker gebracht worden waren. Nachdem wir es mit ihm besprochen hatten, beschlossen wir, deine Befreiung zu riskieren.«
»Warum?« fragte Caramon nachdenklich.
»Zum einen habe ich gesehen, wie du dich meinem Bruder gegenüber verhalten hast«, antwortete Wolkenstürmer.
»Du hast mich gesehen?«
»Ich war im Tunnel. So nahe bei meinem Bruder konnte ich durch seine Augen sehen, durch die Steinwände hindurch. Mein Herz schlägt im gleichen Rhythmus wie seins. Mein Kopf teilt seine Gedanken. Ich hörte deine Worte und sah dich und glaubte, daß du ein guter, mitfühlender Mensch bist.«
Caramon schwieg. Er dachte an seinen eigenen Bruder, Raistlin. War es nicht auch so mit ihm und Raist? Daß sie mitunter durch die Augen des anderen sehen konnten? Daß auch ihre Herzen wie eines schlugen?
»Wir haben wenig Erfahrung mit Menschen«, warf Sonnenfeder diplomatisch ein. »Ich selbst habe in meinen dreihundert Jahren auf dieser Erde noch nie einen von Angesicht zu Angesicht gesehen.«
»Dreihundert Jahre!« rief Caramon aus. Der junge Krieger wußte, daß Zwerge und Elfen lange lebten, aber Sonnenfeder war bereits dreimal so alt, wie Caramon je werden konnte.
»Ja«, gab Sonnenfeder schmunzelnd zu. »Ich bin alt und nicht mehr ganz auf der Höhe. Wenn ich nicht mehr bin, wird es an Wolkenstürmer sein – «
»Vater!« rief Wolkenstürmer, der den Arm hochriß und eine ärgerliche Geste machte.
Die Kyriefrau sah betroffen aus. Drei Weitblick-Augen senkte den Blick. Sonnenfeder zog eine schuldbewußte Miene.
»Wolkenstürmer hat recht«, sagte der Anführer der Kyrie. »Es ist nicht recht, von Morgenhimmel zu reden, als wäre er bereits tot. Morgenhimmel ist der Erstgeborene und rechtmäßige Erbe der Herrschaft. Aber – « Seine Stimme brach.
Drei Weitblick-Augen wechselte eilends das Thema. »Die meisten Menschen, die wir kennen«, sagte Drei WeitblickAugen freundlich, »sind Räuber oder Sklaven. Aber unsere Legenden erzählen, daß Menschen klug, einfühlsam und treu sein können. Außerdem war es uns das Risiko wert, die Stiermenschen zu beschämen. Die Nachricht einer Flucht aus ihren Gefängnis in Atossa wird sie tief entehren.«
»Werden sie nicht Morgenhimmel bestrafen?« sorgte sich Caramon.
»Sie werden meinen Bruder niemals hinrichten«, sagte Wolkenstürmer grimmig. »Sie werden ihn am Leben erhalten, solange sie können.«
Nachdem das Mahl vorüber war, holte die Kyriefrau Pfeifen, Kautabak und eine Schüssel mit dicken, aufgeschnittenen Stücken einer gummiartigen Wurzel heraus. Wolkenstürmer wählte eine Pfeife mit langem Stiel, füllte sie mit etwas aus einem Beutel und saugte sinnend daran. Drei Weitblick-Augen kaute Tabak. Sonnenfeder griff nach der Wurzel, und Caramon schloß sich ihm aus Gründen der Höflichkeit an.
Draußen war es dunkel und still geworden. Die ältere Frau ging in der Höhle herum. Sie griff nach einigen kleinen Kugeln an der Wand, die durch ihre Berührung magisch entzündet wurden und ein blaßblaues Licht von sich gaben.
Caramon kaute auf der Wurzel herum, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Sie hatte einen milden, angenehmen Geschmack. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Sein Körper schmerzte, und sein Geist ebenso.
Beim Kauen strömte ein Kitzeln durch seinen Körper. Caramon merkte, wie sich seine Muskeln entspannten. Sein Geist schwebte frei herum. Er fühlte sich nicht mehr müde und traurig. Seine Gedanken wanderten zu Raistlin. Er fragte sich, wo sein Zwillingsbruder war und ob Raist irgendeine Ahnung hatte, wo Caramon steckte.
Er machte sich Sorgen um seinen Bruder. Kitiara hatte ihm eingebleut, daß es seine Sache war, sich um seinen Zwillingsbruder zu sorgen, auch wenn Caramon wußte, daß Raistlin sich im Moment wohl ebenso viele Gedanken um ihn machte. Caramon hoffte von Herzen, daß er für diese Kyrie ein guter Vertreter der Menschheit war, da sie wie Sonnenfeder nie zuvor einen Menschen kennengelernt hatten. Bestimmt hätte Raistlin die Lage besser begriffen und wäre ein eindrucksvollerer Vertreter der Menschen gewesen.
Caramon dachte an Tolpan. Armer Tolpan. Wahrscheinlich war der Kender tot. Was konnten die Minotauren von ihm gewollt haben? Etwas Dunkles, Unangenehmes, da war sich Caramon sicher. Tolpan war nicht im Gefängnis gewesen, auch nicht in Atossa, sonst hätten die Kyrie ihn bestimmt bemerkt, überlegte Caramon. Kender übersieht man nicht so leicht.
Der junge Krieger sah sich unter den Kyrie in der Höhle um, die ihm zunickten. Er fragte sich, ob sie seine Gedanken lesen konnten. Im gleichen Augenblick war es fast so, als könnte er ihre lesen. Er spürte ihre tiefe Verzweiflung wegen Morgenhimmel und zugleich das Störrische, Unverwüstliche an diesem Volk. Sie waren eine bemerkenswerte Rasse. Es erfüllte ihn mit Stolz, als Gast bei den alten Kyrie zu sein.
Caramons Gedanken wandten sich Sturm zu. Sturm hätte sich hier oben in den Bergen weniger wohl gefühlt, trotz des guten Essens und dieser angenehmen Wurzel zum Nachtisch – nicht solange sein Freund Caramon derjenige war, der im Gefängnis zurückgelassen worden war.
Die Minotauren würden ihre Verärgerung vielleicht nicht an Morgenhimmel auslassen, erkannte Caramon urplötzlich. Aber sie würden vielleicht – wahrscheinlich – Sturm foltern.
»Ich muß zurück«, erklärte der Mann aus Solace plötzlich, wodurch er die Kyrie erschreckte, denn er brach die harmonische Stille, die in der Höhle geherrscht hatte. Caramon machte ein entschlossenes Gesicht. »Ich muß zurück und meinen Freund Sturm retten.«
Die Gesichter um ihn herum waren voller Ablehnung. »Das wäre unklug«, sagte Sonnenfeder.
»Dumm«, sagte Wolkenstürmer, der seine Pfeife hinlegte.
»Ich – ich – « Caramon versagte die Stimme. Er war nicht so beredsam wie sein Bruder. »Ich muß zurück«, wiederholte Caramon. »Sturm Feuerklinge würde gewiß versuchen, mich zu retten. Kein Risiko würde ihn davon abhalten, keine hundert, ach was, tausend Minotauren. Er würde es als Gebot der Ehre ansehen. Ich kann nur versuchen, genauso zu handeln wie er.«
»Aber wie kommst du in das Gefängnis?« fragte Drei Weitblick-Augen voller Mitgefühl. »Und, was wichtiger ist, wie kommst du heraus?«
Caramon hatte darauf keine Antwort. Er wandte sich an Wolkenstürmer. »Du sagst, ihr habt die ganze Zeit einen Posten im Tunnel?«
»Ja«, erwiderte Wolkenstürmer. »Tag und Nacht.«
»Dann werde ich seine Berichte anhören, achtgeben und warten. Ich werde eine Gelegenheit finden. Selbst, wenn sich nichts ändert, muß ich trotzdem etwas unternehmen.«
Alles schwieg still. Caramon sah Sonnenfeder an, denn er wartete, daß der Kyrieführer etwas sagte. Das Gesicht des Alten war ausdruckslos.
»Ich gehe mit dem Menschen!« sagte Wolkenstürmer unvermittelt.
Sonnenfeder wirkte schockiert. »Das kannst du nicht, mein Sohn! Du hast bereits zuviel riskiert. Du mußt nicht nur deine eigene Zukunft bedenken, sondern auch die Zukunft der ganzen Rasse.«
Wolkenstürmers Augen blickten hart und stur. »Ich gehe kein Risiko ein, das du nicht selbst auf dich nehmen würdest – wenn du nicht so ein alter Knochen wärst.« Obwohl Wolkenstürmers Worte den Vater wie Schläge trafen, glänzten Sonnenfeders Augen unmißverständlich vor Stolz. »Ich bewundere diesen Caramon«, sagte Wolkenstürmer. »Ich würde gern seinem Freund helfen, so wie ich ihm geholfen habe.«
Caramon schüttelte Wolkenstürmer die Hand. Diesmal legte der Kyrie seine andere Hand in solidarischer Gebärde auf die Caramons.
Drei Weitblick-Augen meldete sich zu Wort. »Wenn Wolkenstürmer geht, sollten andere, die Lust haben, mit den Minotauren zu kämpfen, Gelegenheit bekommen, sie zu begleiten. Der Mensch sollte in die Kriegergemeinschaft gebracht werden.«
Wolkenstürmer erschien bei diesen Worten dankbar. Obwohl Caramon nicht wußte, was die Kriegergemeinschaft war, überraschte ihn die Inbrunst in den Worten des alten Vogelmanns.
Lange Minuten starrten sich Sonnenfeder und Wolkenstürmer von Vater zu Sohn an. »Du mußt tun, wozu es dich treibt«, sagte Sonnenfeder schließlich schweren Herzens. Der Anführer der Kyrie seufzte. »Aber tue nichts Unüberlegtes – und heute nacht tust du gar nichts. Einverstanden? Also, es ist Schlafenszeit. Zeit, uns im Schlaf die Dinge zu erträumen, die wir zu tun hoffen.«
Auf dieses Zeichen von Sonnenfeder verließen Drei Weitblick-Augen und die junge Kyriefrau die Höhle. Wolkenstürmer zögerte, nickte Caramon freundlich zu und ging dann ebenfalls. Sonnenfeder legte Caramon seinen gefiederten Arm um die Schulter, als der Majerezwilling aufstand, um zu gehen.
»Du schläfst hier«, sagte Sonnenfeder. Er zeigte in die Ecke, wo die alte Kyriefrau noch dabei war, einen dicken Stapel Pelze aufzuschichten.
»Aber das ist dein Haus«, wandte Caramon ein, »und ich habe dir nichts als Leid gebracht.«
Sonnenfeder schüttelte den Kopf. »Du hast nichts gebracht, das nicht schon vor deiner Ankunft hier gewesen wäre«, sagte der alte Kyrie. »Und solange du bei uns bleibst, wünsche ich, daß du diese Höhle als dein Zuhause ansiehst. In den Bergen sind die Nächte kalt, und du bist an das Klima nicht gewöhnt.«
Caramon machte den Mund auf und wollte protestieren, aber Sonnenfeder hob abwehrend die Hand. »Ich bin überall bei meinem Volk willkommen«, sagte der Kyrieführer, »und brauche mich nicht um einen Platz zum Schlafen und Essen zu sorgen. Und in manchen Nächten ziehe ich sogar den offenen Himmel vor.« Sein dunkles Gesicht verzog sich zu einem verknitterten Lächeln. »Auch wenn ich ein alter Knochen bin.«
Caramon hatte keine Einwände mehr. In Wahrheit war er froh über die behagliche Höhle.Die nächsten paar Tage lebte Caramon wie die Kyrie in dieser Höhlenstadt an den steilen Klippen, welche die tiefen Täler hoch im Norden von Mithas säumten.
Der größere, schlankere Wolkenstürmer konnte Caramon leicht mit seinen Klauenfüßen von Plateau zu Plateau tragen. Wo er auch hinkam, war Caramon der Neugierde der Kyrie ausgesetzt, auch wenn er unweigerlich herzlich empfangen wurde. Während vor allem die Frauen in ihrer Kyriesprache über ihn schwatzten, benutzte der Großteil der Vogelmenschen in seiner Gegenwart die Gemeinsprache. Ihre Gastfreundschaft war überwältigend. Viele von ihnen schienen die Geschichte seiner Flucht und seine Beziehung zu Morgenhimmel bereits zu kennen.
Manche der Kyriehöhlen waren so groß, daß sie ein Dutzend Familien beherbergen konnten, wie Caramon bemerkte, während andere Familien lieber für sich allein in sonnenerhellten Mulden am Fuß der Klippen lebten. Die gelegentlichen Holzbalken und Leitern, die Caramon sah, waren von meilenweit her durch die Luft geschleppt worden, wie Wolkenstürmer ihm erzählte. Holz wuchs in dieser Höhe nicht und war ein rechter Luxus und daher ein Statussymbol.
Die zähen, schlauen Kyrie hatten sich zum Überleben einzigartig auf ihre Umgebung eingestellt, die bei Tag heiß und ausgedörrt war, bei Nacht kalt und trocken. Regenwasser war kostbar. Der wenige Regen wurde in Becken am Grund des Canyons aufgefangen, wohingegen nur eine kleine Menge oben in den Höhlenstädten aufbewahrt wurde, wo die Feuchtigkeit wegen der unablässigen Einwirkung von Sonne und Wind rasch verdunstete. Die Kyrie hatten in den Felsboden Bewässerungskanäle gegraben und Dämme errichtet. Die Kanäle waren tief, damit weniger Wasser der Sonne ausgesetzt war, und schmal, damit man sie in kalten Nächten abdecken konnte.
Eselhasen, Wildkaninchen, Maultierhirsche und kleine Nager versorgten die Kyrie mit Fleisch. Die Männer, denen diese Pflicht auferlegt war, gingen täglich auf die Jagd. Obwohl die Kyrie kein Bauernvolk waren, besaß jede Familie einen kleinen, bewässerten Garten. Der Garten ergänzte ihre Mahlzeiten mit Kaktusfeigen, Nüssen, Bohnen und Samen. Bei Streifzügen durch die Täler sammelten sie wildes Getreide. Als schlanke, drahtige Rasse aßen die Kyrie wenig – nur eine Hauptmahlzeit am Tag.
Caramon fragte Wolkenstürmer nach den magischen, blauen Kugeln, die nachts für Beleuchtung innerhalb der Höhlen sorgten. Es gab sie überall. Wie Wolkenstürmer erklärte, hatten viele Kyrie gewisse magische Kräfte. Als Volk waren sie vor allem für ihre Fähigkeit bekannt, mit den Tieren reden und sie bezaubern zu können. Aber von den magisch Begabten waren die am angesehensten, die das Wetter vorhersagen oder beeinflussen konnten. Auf jeden Fall waren die blauen Lichtkugeln ein sehr einfacher Zauber, wie Wolkenstürmer sagte.
Während die Männer auf die Jagd gingen, waren die Frauen damit beschäftigt, zu töpfern, Lederkleider zu nähen und Muscheln zu schnitzen. Während Menschen ihre Sachen gern in Beuteln oder Rucksäcken tragen, hängten sich viele der Kyrie kleine Körbe um den Leib. Diese konnten alles enthalten, von Trockenfrüchten über Erbstücke der Familie bis hin zu kleinen Waffen. Die traditionelle Waffe, die in keinen Korb paßte, war eine gebogene, aus Holz geschnitzte Keule, der Treffer. Viele Männer, die jagen gingen, hatten sowohl Pfeil und Bogen als auch ihren Treffer dabei.
Caramon fiel auf, daß unter den jungen Männern ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Sie flogen hinreißend, diese jungen, starken Kyrie. Wie große Adler, die rasch vorankamen, wenn sie mit ihren breiten Flügeln schlugen. Manche kamen mit den toten Tieren über den Schultern direkt von der Jagd. Andere waren offenbar Späher und Botschafter.
Die Späher und Botschafter erstatteten Wolkenstürmer direkt Bericht. Einige zeigten auf Caramon und sprachen schnell in ihrer Kyriesprache. Manche der jungen Vogelmänner sahen ihn hochnäsig an, und Caramon kam es so vor, als ob sie in ihrer Sprache mit Wolkenstürmer stritten.
Obwohl Caramon Wolkenstürmer bedrängte, ihm zu sagen, was sie ihm mitteilten, wich Sonnenfeders Sohn ihm aus. Caramon hielt das für sein königliches Vorrecht, aber er machte sich Gedanken um Sturm und wollte wissen, ob und was der Kyrie über den Solamnier berichtet hatte. Mehr als einmal bat Wolkenstürmer den Menschenkrieger, Ruhe zu bewahren.
Nach vier Tagen bei den Kyrie hatte sich Caramon gut ausgeruht und war schlanker, kräftiger und kein bißchen geduldig.
»Wo liegt denn Atossa von hier aus?« fragte Caramon Wolkenstürmer, als sie einmal auf dem Absatz standen, wo er ursprünglich angekommen war.
Wolkenstürmer zeigte nach Süden. »Hundert Meilen.«
»Ich könnte zurückgehen und als Posten im Tunnel warten«, drängte Caramon.
Wolkenstürmer legte dem besorgten Krieger eine Hand auf die Schulter. »Nein, mein Freund«, wiederholte er. »Bald. Dein Freund ist am Leben. Mein Bruder ist am Leben. Aber du mußt Geduld haben. Wir müssen noch warten, bis etwas geschieht.«
In dieser Nacht lag Caramon in der Höhle, die Sonnenfeder ihm überlassen hatte, auf dem Rücken und wartete auf den Schlaf, als Wolkenstürmer ihn holen kam.
Caramon zuckte zusammen, als der Sohn von Sonnenfeder eintrat. Sein Kyriefreund war merkwürdig bemalt und mit Perlen und Muscheln geschmückt. Wolkenstürmer holte eine Augenbinde heraus. Obwohl Caramon sich dabei unwohl fühlte, ließ er sie sich von dem Kyrie vor die Augen binden, so daß er nicht sehen konnte, wohin er gebracht wurde.
Dann hatte Caramon das inzwischen vertraute Gefühl, angehoben und durch die Luft getragen zu werden, diesmal jedoch nur über eine kurze Strecke. Als die Augenbinde abgenommen wurde, befand sich Caramon in einer anderen Höhle mit einem Dutzend Kyriemänner, die wie Wolkenstürmer aufgemacht und geschmückt waren. Einige von ihnen hatte er bereits kennengelernt. Andere hatte er noch nie gesehen.
Sie saßen im Schneidersitz im Kreis. Als sich Caramon, geführt von Wolkenstürmer, zu der Gruppe gesellte, stand einer der Kyrie auf, kam zu ihm, bemalte sein Gesicht mit aschgrauen Zickzacklinien und legte ihm den zeremoniellen Feder- und Edelsteinschmuck um. Caramon wußte, daß dieser Kyrie Wolkenstürmers Freund war. Er hieß Vogelgeist.
Die Vogelmenschen reichten sich die Hände und begannen ein Lied in ihrer Kyriesprache. Caramon wurde zwischen zwei Kyrie gesetzt, die er nicht kannte. Als er sich umschaute, bemerkte er, daß Wolkenstürmer verschwunden war. Die Kyrie faßten seine Hände. Obwohl der junge Krieger keine Ahnung hatte, was die Kyrie sangen, fühlte sich Caramon von ihrem feierlichen Ritual angezogen.
Das Singen dauerte lange. Caramon merkte, wie er allmählich davon eingelullt wurde. Als er die Augen aufriß, sah er, daß auch die anderen ihre Augen geschlossen hatten. Die Kyrie hatten sich gezielt in Trance versetzt. Jemand hatte Räucherstäbchen angezündet, und ein durchdringender Geruch, der von Rauchkringeln begleitet wurde, erfüllte die Höhle.
Ganz plötzlich hörte das Singen auf, und aus einer dunklen Ecke kam Wolkenstürmer mit einer großen, schweren Holzkiste wieder zu ihnen. Vorsichtig stellte er sie in die Kreismitte. Alle verfolgten jede seiner Bewegungen, als sich der Kyrie bückte, den verriegelten Deckel öffnete und – Caramon hielt die Luft an – einen seltenen Meeresdrachen herauszog.
Der Meeresdrache war groß. Mit seinem echsenartigen Kopf, der dicken, dunklen Schale, den Schwimmhäuten an den Zehen und den umfangreichen, paddelähnlichen Flossen ähnelte er einer Riesenschildkröte. Caramon wußte, daß diese wilden Tiere, die keine echten Drachen waren, dafür berüchtigt waren, Schiffe anzugreifen. Sie wurden selten lebend gefangen. Obwohl sie sowohl Luft als auch Wasser atmen konnten, überlebten sie auf dem Trockenen nicht lange.
Wolkenstürmer hielt ihn hoch und überreichte ihn mit theatralischer Geste Vogelgeist, der Caramon gegenüber saß. Der Kopf des Meeresdrachen peitschte herum, seine mächtigen Kiefer schnappten in die Luft. Minutenlang hielt Vogelgeist den Meeresdrachen über seinen Kopf, wobei er sang und murmelte, während das ungezähmte Tier mit aller Kraft bemüht war, sich seinem Griff zu entwinden und ihn anzugreifen.
Vogelgeist gab den Meeresdrachen an Wolkenstürmer zurück, der ihn dem nächsten Kyrie reichte. So ging es im Kreis herum, bis Wolkenstürmer das Tier zu Caramon brachte. Die anderen beobachteten ihn eindringlich. Aus der Nähe war das Meerestier abstoßend. Es kreischte, peitschte mit dem Schwanz, stieß mit dem Maul zu. Caramon zögerte einen Augenblick und nahm Wolkenstürmer den Meeresdrachen ab.
Er folgte dem Beispiel der anderen und hielt den Meeresdrachen über seinen Kopf, schwieg aber, während die anderen Kyrie für ihn sangen. Der Majerezwilling hielt das Tier hoch, bis ihm die Arme wehtaten. Dann nahm er ihn herunter und gab ihn Wolkenstürmer zurück.
Wolkenstürmer sah Caramon in die Augen und gab den Meeresdrachen an den nächsten Kyrie weiter.
Nachdem der Meeresdrache die Runde gemacht hatte, wurde der Gesang lauter, während Wolkenstürmer das Tier in der Mitte des Kreises auf den Boden drückte. Er zog ein langes, scharfes Messer heraus, und als das Tier sich im Bemühen zu fliehen herumwarf, stieß Wolkenstürmer ihm wieder und wieder das Messer in den Rücken, um die Schale zu durchbohren. Vogelgeist eilte mit einer Schale hin, mit der er das Blut und die Körpersäfte des Meerestiers auffing.
Nach einer Weile lag das Tier still. Einer der Kyrie brachte den toten Körper zurück in die Kiste und zog diese zur Seite.
Wieder wandte sich Wolkenstürmer zuerst Vogelgeist zu. Diesmal reichte er seinem Freund das Messer. Vogelgeist nahm das Messer und schnitt sich quer über den Unterarm, so daß Blut aus der Wunde tropfte. Wolkenstürmer fing etwas Blut in der Schale auf, nahm Vogelgeist dann die Schale ab und gab sie im Kreis weiter.
Einer nach dem anderen schnitten sich die anderen und ließen ihr eigenes Blut in die Schale mit den Körpersäften des seltenen Meeresdrachen tropfen.
Als das Messer bei Caramon ankam, sah er auf und begegnete wieder Wolkenstürmers Blick. Ohne zu wissen warum, aber im Vertrauen auf die Rituale dieser guten, ehrenvollen Rasse der Vogelmenschen, schnitt sich Caramon in den Unterarm. Da er unerfahren war, geriet ihm der Schnitt ziemlich tief, und nachdem Blut in die Schale gesprudelt war, mußte er die Hand auf den Arm drücken, um den Blutfluß zu stoppen.
Wolkenstürmer vollzog das Ritual als letzter.
Alles schwieg jetzt. Niemand sang mehr. Keiner rührte sich.
Wolkenstürmer kniete in der Mitte des Kreises. Er trank als erster aus der Schale. Er wollte sie Vogelgeist reichen, hielt dann jedoch noch einmal inne. Der Sohn von Sonnenfeder, Bruder von Morgenhimmel, Erbe der Herrschaft über die Kyrie, drehte sich um und brachte die Schale Caramon Majere.
Um ehrlich zu sein, wurde Caramon ganz schlecht bei dem Gedanken, diese Mischung zu trinken, aber bisher hatte er alles mitgemacht. Er würde tun, um was man ihn bat. Nachdem er die Schale mit beiden Händen umfaßt hatte, setzte er die lauwarme Flüssigkeit an die Lippen und würgte etwas davon herunter.
Als er aufblickte, entdeckte er Anerkennung in Wolkenstürmers Augen. Im Kreis sah er nickende Gesichter.
Die Schale ging im Kreis herum.
Caramon war nicht der einzige Krieger, dem in jener Nacht beim Meeresdrachenritual schlecht wurde. Minuten nach dem Trinken der Blutmischung war er hinausgerannt, um sich in der Dunkelheit mehrfach zu übergeben.
Hinterher erklärte Wolkenstürmer Caramon mit trockenem Grinsen, daß das nicht als unehrenhaft galt. Caramon hatte sich gereinigt und würde jetzt als einer von ihnen angesehen werden. Als Ehrenmitglied – denn er war kein Kyrie – ihrer Kriegergemeinschaft.

Kapitel 4

Die Grube des Untergangs

Früh am Morgen vor ihrem Aufbruch nach Atossa trank Tolpan die doppelte Dosis seines Tranks. Er sagte, er fände allmählich Gefallen an dem Geschmack – milchig, einen Tick süßlich –, so daß es für Fesz kein Problem darstellte, ihm alles einzuflößen.

Weil er den Kender gut kannte, wurde Dogz dazu ausersehen, sie auf der Reise von Lacynos nach Atossa und von dort aus weiter nach Karthay zu begleiten. Er sollte Tolpan bewachen.

»Nun, sagen wir lieber, als Leibwächter«, hörte Tolpan Fesz zu Dogz sagen.
Dogz stieß Tolpans neues Verhalten ab, denn er benahm sich weniger wie ein Kender als einfach böse. Der riesige Minotaurus versuchte, sich der Aufgabe durch Betteln zu entziehen, aber Fesz bestand auf Dogz’ Begleitung.
»Er hält dich für seinen Freund«, sagte Fesz weise und fügte hinzu: »Außerdem ist das ein Befehl.«
In einem halben Tag brachten sie die Strecke nach Atossa mit einer königlichen Kutsche hinter sich, die von schlanken, schwarzen Pferden gezogen wurde. Gleichermaßen zur Schau wie zum Schutz donnerte ein Trupp komplett bewaffneter Minotaurensoldaten neben ihnen her und wirbelte Staubwolken auf. Die Straße war steinig und voller Schlaglöcher, so daß Minotauren und Kender wiederholt in ihren Sitzen durchgerüttelt wurden.
Durch die Fenster der Kutsche sah Tolpan kahle Wüste. Mit dem Lärm, dem Staub, der glühenden Hitze und der langweiligen Landschaft war es wirklich keine angenehme Reise, fand Tolpan. Obwohl er es lustiger fand als Fesz und Dogz, in seinem Sitz auf und ab zu hopsen.
Sie kamen zur Mittagszeit an und wurden mit viel Pomp begrüßt. Die Abordnung begrüßte Fesz so, wie es einem hohen Würdenträger zukam. Die Minotaurendelegation betrachtete Tolpan mit sichtlicher Neugier. Dogz stand mit finsterem Gesicht im Hintergrund.
Ein Minotaurus mit eindrucksvollen Abzeichen, der von einem Menschensklaven begleitet wurde, begann um Fesz herumzuschwänzeln. Er lud ihn zu einem Ehrenbankett ein. Aber Fesz, der schon wegen der heißen, lauten, durch und durch unangenehmen Reise schlechtgelaunt war, bestand darauf, auf der Stelle den gefangenen Menschen zu sehen – den, der nicht entkommen war.
»Ja, auf der Stelle! Oder es rollen Köpfe!« ergänzte Tolpan in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
»Das ist er«, knurrte Dogz. »Das ist einer der Männer vom Schiff.« Fast schuldbewußt fügte er hinzu: »Wahrscheinlich hätten wir ihn gleich umbringen müssen, anstatt ihn über Bord zu werfen.«
»Natürlich hättet ihr das«, sagte Tolpan etwas eingeschnappt. »Jetzt schau dir nur an, was der für eine Aufregung verursacht hat. Wenn ihr mich gefragt hättet, hätte ich gesagt: ›Umbringen und fertig.‹ Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen – besonders wenn’s ums Töten geht, wie ich immer sage. Natürlich war ich damals noch nicht richtig böse, also hätte ich vielleicht nicht gerade ›Umbringen und fertig‹ gesagt. Aber im nachhinein hast du absolut recht, Dogz.«
»Wie heißt er nochmal?« fragte Fesz, der den Kopf schief legte und den Menschen ansah.
Sie standen vor Sturm Feuerklinges Kerkerzelle. Sturm saß mit dem Gesicht zu ihnen auf einem Stuhl. Seine Hände waren hinter dem Stuhl mit einem Seil zusammengebunden. Der Mann aus Solamnia war voller Wunden und Blutergüsse, denn er war wohl erst kürzlich verprügelt worden. Aber die Minotaurenwachen hatten offenbar versucht, ihn herzurichten, damit er für den ungewöhnlichen Besuch dieses hohen Gesandten des Nachtmeisters manierlich aussah.
Sturm sah sie finster an. Er war überrascht und anfänglich erleichtert, Tolpan zu sehen, doch der Kender hatte ihn nicht begrüßt und verhielt sich abweisend. Sturm beobachtete verwirrt, wie Tolpan sich in verschwörerischem Flüsterton mit den Minotauren unterhielt. Der Kender verhielt sich wirklich merkwürdig. Der junge Solamnier konnte keinen Blick von Tolpan auffangen.
Was hatte er vor?
Einer der Minotauren war der seltsamste Vertreter dieser Rasse, den Sturm bisher gesehen hatte. Der breite Stiermensch mit den langen Hörnern war offensichtlich ein Würdenträger oder Hohepriester. Er war in Federn und Pelze gekleidet und bewegte sich feierlich, zielstrebig und würdevoll.
Sturm hatte den sicheren Eindruck, daß Tolpan als Kumpan oder Berater des Minotaurus tätig war.
»Sturm Feuerklinge«, sagte Tolpan, der verächtlich ausspuckte, was er sich von den Minotauren abgeguckt hatte. »Er hält sich für einen Ritter von Solamnia, aber in Wirklichkeit ist er keiner – nur ein weiterer trauriger Fall von fehlgeleitetem Ehrgeiz, wenn ihr mich fragt. Das ist eine lange Geschichte, und ich weiß nicht genau, ob ihr Näheres wissen wollt, aber soweit ich weiß, geht es bei seinem Vater – «
»Ich will ihn mir näher ansehen«, unterbrach Fesz ihn grollend.
Die Minotaurenwache hinter ihm gehorchte eilig. Die Tür wurde geöffnet, und Tolpan und Fesz betraten die Zelle.
Dogz wartete vor der Zelle, denn ihm war die ganze Situation gleichgültig.
Fesz näherte sich Sturm und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Tolpan tat dasselbe. Er hoffte, Fesz würde bemerken, wie gut er jede Bewegung des Minotaurus nachahmte. Der Kender schob sein Gesicht direkt neben das von Sturm und legte den Kopf schief, genau wie der Minotaurenschamane das tat.
Da er bereits gelernt hatte, daß es in diesem Gefängnis ein Fehler war, impulsiv zu handeln, beschloß Sturm zu schweigen. Vielleicht würde er so einen Hinweis darauf bekommen, welches Spiel der unberechenbare Kender spielte.
»Ein großer Fehler«, sagte Tolpan verächtlich. »Offensichtlich haben sie den Kerl gefoltert, was eine phänomenale Zeitverschwendung ist. Er würde lieber sterben, als seinen Ehrenkodex brechen. Dasselbe gilt für Kitiara, falls ich es noch nicht erwähnt habe. Zeitverschwendung, sie zu foltern. Nur hat das in ihrem Fall nichts mit Ehre zu tun. Ist bloß reine Sturköpfigkeit. Wenn wir nach Karthay kommen, können wir das dem Nachtmeister sagen, falls er es noch nicht selbst herausgefunden hat. Hat er aber wahrscheinlich, wo er doch der Nachtmeister ist und so.«
Sturm hörte aufmerksam zu. Was plappert dieser Kender da über Kitiara, Karthay und jemanden namens Nachtmeister?
»Es ist vor allem dann eine Zeitverschwendung, Sturm zu foltern, wenn ihr nichts anderes machen wollt, als hauen und treten und ein bißchen schneiden. Sturm entstammt einer langen Reihe von traditionellem solamnischen Unsinn, und auf normale, körperliche Folter reagiert er nicht wie andere Menschen. Also, wenn du mich fragst, ich würde etwas Einfallsreicheres anstellen.«
Fesz ging hinter dem Gefangenen auf und ab. Der Minotaurenschamane holte mit weiten Nüstern tief Luft. Er senkte den gehörnten Kopf. Fesz hatte Sturm bereits vergessen. Er prägte sich den noch wahrnehmbaren Geruch des anderen Menschen ein. Dessen, den sie Caramon nannten. Raistlins Bruder.
Tolpan langte in seinen Beutel und wühlte darin herum. Er zog eine kleine Schere heraus. Mit der freien Hand ergriff er ein Ende von Sturms langem, herunterhängenden Schnurrbart.
»Das ist es, was ich tun würde«, schrie er triumphierend, während er ein Ende von Sturms Schnurrbart abschnitt. Sturm zuckte zusammen, sagte aber nichts. Wütend funkelte er den Kender an.
»Ja!« Stolz hielt Tolpan die braune Haarsträhne in die Luft, um sie Fesz zu zeigen. »Ja, das ist es, was ich Folter nenne! Diese Solamnier sind sehr stolz auf ihre Schnurbärte. Oh, ja, sehr stolz!«
Mit breitem Grinsen trat er an Sturm heran. »Das wollte ich schon lange machen«, verspottete der Kender den jungen Solamnier. »Ja, sehr, sehr lange! Du glaubst, du bist so groß und mächtig, bloß weil du dir einen langen, trübsinnigen Schnurrbart wachsen lassen kannst. Tja, das konnte ich auch, wenn ich wollte. Ich konnte einen Schnurrbart haben, langer als ein Haarknoten. Ich – «
»Ich möchte sehen, wo der Kyrie gefangengehalten wird«, knurrte Fesz und schnitt Tolpan das Wort ab, »und wo der andere Mensch vor seinem Verschwinden zum letzten Mal gesehen wurde.«
»Ja, Exzellenz!« sagte die Wache, die loseilte, um sie zu führen. Die Wache packte den Kender an den Schultern und steuerte ihn aus der Zelle. Der böse Tolpan verrenkte sich im Griff des Minotaurus, um Sturm über die Schulter zuzukreischen: »Und ich glaube, du denkst, wir sind den ganzen Weg hierhergekommen, bloß um dich zu sehen, Herr Trübseliger Schnurrbart! Hah! Wir sind bloß gerade zufällig auf dem Weg nach Karthay, wo wir eine Verabredung mit dem Nachtmeister haben und einen großen, fetten, wichtigen Zauberspruch sagen wollen, der Sargonnas in diese Welt einlaßt. Und hab’ ich schon erwähnt, daß kein anderer als Kitiara Uth Matar schon dort gefangen sitzt, so daß wir noch wichtigere Leute zu foltern haben als dich…«
Sturm preßte die Lippen aufeinander.
Die Minotaurenwache ging einen Gang entlang. Fesz, der Tolpan vor sich her stieß, folgte ihr.
Es war Dogz, der stehenblieb und Sturm anstarrte. Der Minotaurus rieb sich betreten das Kinn, denn er fand, er hatte die beiden Menschen wirklich toten sollen, als er ihnen zum ersten Mal begegnet war. Nächstes Mal würde er es besser wissen. Jetzt steckte er bis zu seinem dicken Stiernacken in Dingen, die er nicht verstand. Seufzend folgte Dogz Tolpan, Fesz und der Minotaurenwache.
Sturm blieb mit einem halben Schnurrbart zurück und grübelte herum, was eigentlich los war.
Die drei Minotauren und Tolpan hielten auf das hinterste Ende des einen, schwach erleuchteten Gangs zu, wo ein einzelner Gefangener hinter Gittern steckte. Er war an einer Seitenwand angekettet.
Dieser Gefangene, erklärte Fesz Tolpan unterwegs, war ein Kyrie, einer der legendären Vogelmenschen, die in abgelegenen Gebirgsregionen von Mithas lebten. Die Kyrie waren eingeschworene Feinde der Minotaurenrasse und gerieten nur selten in Gefangenschaft.
»Dein früherer Freund, Caramon, hatte eine Vertrauensstellung, denn er brachte den anderen Gefangenen Wasser und Essen«, bemerkte Fesz. »Zuletzt wurde er vor der Zelle des Kyrie gesehen. Dann ist er spurlos verschwunden – wie durch Zauberei.«
Wenn er über Raistlin reden würde, Caramons Zwillingsbruder, stellte Tolpan mit weiser Miene fest, dann mußten sie alles Mögliche in Betracht ziehen. Unsichtbarkeitszauber, Zeitreisen, selbst eine Flucht in Gestalt eines Tausendfüßlers. Aber da es um Caramon ging, war der Kender sich sicher, daß keine Magie im Spiel war.
»Dieser Raistlin muß ein sehr mächtiger Magier sein«, knurrte Fesz beeindruckt.
»Ja, sehr mächtig«, stimmte Tolpan zu. Insgeheim fügte er für sich hinzu: Obwohl er eigentlich noch kein richtiger Magier ist. Laut sagte er: »So mächtig wie überhaupt einer. Ich würde nicht einmal zu raten wagen, wie mächtig, denn noch während ich mir die Zeit zum Raten nehme, würde Raistlin wohl einen oder zwei neue Sprüche lernen und noch mächtiger werden!«
Als sie an der Zelle des Kyrie ankamen, war Tolpan enttäuscht und verärgert. Außer den Beinen, die entschieden vogelähnlich waren, sah der Gefangene nicht gerade wie ein Vogelmensch aus. Der Kyrie war übel geschlagen worden, und seine Arme hingen schlaff an den Seiten herab. Ein armseliger Anblick.
Ein leises Zucken verriet Tolpan, daß der Kyrie am Leben war, aber nur gerade so eben. Vom äußeren Anschein her hätte er genausogut tot sein können.
Als Dogz sich vorbeugte und Tolpan zuflüsterte, daß die häßlichen, vereiterten Wunden auf dem Rücken des Kyrie die Stellen waren, wo man ihm die Flügel herausgerissen hatte, ging der Kender in die Luft.
»Was?« schrie Tolpan, der sich zu der Wache umdrehte und den Stiermenschen mehrmals kräftig gegen die knubbeligen Kniescheiben trat. »Da habe ich die Chance meines Lebens, kann einmal einen Blick auf einen Kyrie werfen, und ihr mußtet den Mann praktisch totschlagen und ihm die Flügel ausreißen? Hach, ohne Flügel sieht er doch praktisch aus wie ein Mensch – und dazu sind wir von Atossa hierhergefahren? Ihr hättet wenigstens warten können, bis – «
Fesz zog Tolpan von der erstaunten Wache fort, die dem Kender im ersten Impuls am liebsten eins auf den Kopf gegeben hätte, ehe sie es sich besser überlegte.
Der Wächter ging ein Stück den Gang hoch. Dogz folgte ihm, um ihm ruhig und mit gesenkter Stimme zu erklären, daß der Kender auf Geheiß des Schamanen einen gesinnungsverändernden Trank eingenommen hat. Solches Benehmen war zu erwarten und wurde sogar gutgeheißen.
Nachdem Fesz Tolpan beruhigt hatte, warf er einen Blick auf den bewußtlosen Kyrie. Dann studierte er das Innere und Äußere der Zelle. Langsam glitten seine Augen über den Boden, die Wände und die Decke. Er kniete sich hin und betastete mit seinen riesigen, starken Händen den festen Steinboden. Er ließ seine Finger über die Ritzen der Seitenwand gleiten. Er legte den Kopf schief, schloß die Augen und lauschte auf ungewöhnliche Geräusche. Dann schlug er sie wieder auf. Ein Stirnrunzeln legte sich über sein Gesicht.
»Das haben wir alles auch gemacht«, sagte die Minotaurenwache verdrossen zu Dogz. Die beiden standen immer noch ein Stück entfernt. »Wir haben auch nichts gefunden.«
Der Schamane riß die Hörner hoch, die beinahe die Decke berührten. Fesz warf der Wache einen vernichtenden Blick zu. Als der Wächter bemerkte, daß man seine Worte gehört hatte, schlug er die Augen nieder und starrte auf seine Füße.
Fesz trat zurück, um Tolpan suchen zu lassen.
Der Kender brannte darauf, sich zu beweisen. Er hatte Fesz genau beobachtet. Zuerst starrte Tolpan den Kyrie an. Dann untersuchte er das Innere der Zelle, wobei seine Augen argwöhnisch hin und her schweiften. In dem schwachen Licht konnte man kaum viel erkennen. Dann sah er sich im Gang vor der Zelle um. Er kniete auf dem Boden nieder und tastete nach allem Ungewöhnlichen. Er fuhr mit den Fingern an den Wänden entlang. Wie Fesz senkte er den Kopf, schloß und öffnete seine Augen und bemühte sich zu lauschen.
Er glaubte, er hätte irgendwo ein Rascheln gehört.
»Hat Caramon irgend etwas hinterlassen… auch nur den leisesten Hinweis?« fragte Tolpan.
»Nichts«, murmelte die Minotaurenwache weiter oben im Gang. »Nur die zwei Eimer, die er getragen hat. Sie standen auf dem Kopf.«
Fesz beobachtete den Kender genau.
Tolpan lief im Kreis, bis er wieder vor der Zelle stand. Er sah Fesz an. Er schaute wieder zu dem Kyrie. Langsam wanderte sein Blick zur Decke, die noch höher war als Caramon Majere – wenn auch nicht viel.
Ungefähr zwei Eimer und eine Armlänge höher, schätzte Tolpan.
»Ich glaube – «, setzte Tolpan an.
»Ja?« fragte Fesz begierig.
»Ich glaube«, erklärte der Kender mit lauter Stimme, »wir sollten Sturm Feuerklinge bestrafen!«
»Sturm Feuerklinge bestrafen?« wiederholte Fesz. Der Gesandte des Nachtmeisters klang verwirrt.
»Es geht ums Prinzip«, erklärte Tolpan noch lauter. »Das Prinzip ist, daß Sturm gewußt haben muß, daß Caramon einen Fluchtversuch plante, und da er sich weigert, uns zu helfen – «
»Wir haben bereits unser Bestes getan, es aus ihm herauszuprügeln«, warf die Wache vom Gang her ein.
»Euer Bestes!« fuhr der Kender hoch. »Du hast die Unverfrorenheit, mir zu sagen, ihr hättet euer Bestes getan?«
Dogz schnaubte, hielt aber den Mund. Obwohl die Minotaurenwache nicht übermäßig rasch lernte, erkannte sie, daß sie besser nichts mehr sagen sollte.
Tolpan drehte sich zu Fesz um, den er höchst feierlich fragte: »Gibt es irgendwelche minotaurischen Hinrichtungsarten, die wirklich einmalig sind?«
Fesz überlegte gründlich, denn er war entzückt, daß Tolpan seine Phantasie solchen wertvollen Zielen zugewandt hatte. »Nun«, antwortete der Schamane langsam, »die Grube des Untergangs ist ein besonders grausames Schauspiel, dem ich selbst – bevor ich aus Ergebenheit gegenüber dem Nachtmeister nach Karthay ging – immer gern zugeschaut habe.«
»Die Grube des Untergangs?« sinnierte der Kender. Tolpan gefiel der Klang.
»Ein Todestanz um höllische Löcher mit feuriger Flüssigkeit«, erläuterte der Minotaurenschamane kurz. »Eine Einrichtung, die um so demütigender ist, weil sie zur Unterhaltung von Horden von Zuschauern aufgeführt wird, die von einer Galerie aus zusehen.«
Tolpan riß die Augen auf. »Die Grube des Untergangs!« schrie er höhnisch. »Das ist es! Das ist die Strafe, die ich diesem arroganten Solamnier verpassen würde!«
»Das einzige Problem ist allerdings«, grollte Fesz, »daß wir innerhalb von drei Tagen in Karthay sein müssen.«
»Drei Tage!« wiederholte Tolpan laut, wobei er jedes Wort deutlich betonte. »Warum können wir den alten Sturm dann nicht morgen früh in die Grube des Untergangs stecken und mittags die Segel setzen?«
»Es spricht nichts dagegen«, stimmte Fesz zu. »Aber wir müssen rasch alle Vorbereitungen treffen.«
»Gut«, sagte der Kender. »Ich würde es als persönliches Privileg ansehen, Zeuge zu werden, wie Sturm bekommt, was er verdient. Außerdem bin ich unendlich neugierig auf Gruben aller Art, ob des Untergangs oder einfach – «
Fesz hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.
Nach einem bedauernden, letzten Blick auf den Kyrie und einem hastigen Blick zur Decke eilte Tolpan dem Schamanen nach.
Der gebrochene Mann zuckte.
Dogz schnaubte.
Als Tolpan an dem Minotaurenwächter vorbeikam, blieb er stehen, um ihm einen festen Tritt gegen das Schienbein zu versetzen.Am nächsten Morgen drängten sich hundert Stiermenschen in der kleinen, halbkreisförmigen Galerie an der einen Seite der Grube des Schicksals.
Schnaubend und stampfend zeigte das Minotaurenpublikum seine Ungeduld, während es auf die Ankunft der Beamten wartete, ohne die der Kampf auf Leben und Tod – zwischen dem hiesigen Champion, einem gnadenlosen Stiermann namens Tossak, und dem gefangenen Menschen, Sturm Feuerklinge – nicht beginnen durfte.
In einer zeremoniellen Prozession begleiteten ein Dutzend Beamte und der Gefängnisleiter Dogz, Tolpan und Fesz beim Betreten der Arena. Sie nahmen in einem abgetrennten Teil der Galerie Platz. Die Zuschauer verrenkten sich die Hälse, um den ungewöhnlichen Anblick eines Kenders nicht zu versäumen. Wie es dem Anlaß gebührte, saß Tolpan kerzengerade und schaute so finster drein, wie er konnte.
Der böse Kender Tolpan Barfuß hatte den Vorschlag gemacht, Sturm am Abend zuvor mitzuteilen, daß er sich am anderen Tag einem tödlichen Zweikampf zu stellen hatte. Er hatte die Ankündigung ohne Regung hingenommen.
Immerhin wurden seine Fesseln gelöst, und er bekam allerbeste Verpflegung und eine Matte zum Schlafen. Die Minotauren sagten ihm zu, daß er mit der Waffe seiner Wahl kämpfen dürfte. Nachdem er sich die Waffen angesehen hatte, die sie ihm zeigten, wählte Sturm ein langes, dünnes, zweischneidiges Schwert mit schön gearbeitetem Griff. Was immer auch in dem kommenden Kampf geschah, Sturm schwor sich, daß er eine gute Figur machen wollte.
Zerschlagen von der Folter und erschöpft von der Gefangenschaft, versuchte der junge Solamnier, die ganze Situation zu begreifen. Er versuchte zu begreifen, warum Tolpan mit diesen Minotauren gemeinsame Sache machte. Konnte es möglich sein, daß der Kender wirklich mit ihnen im Bunde war? Obwohl er so geschwächt war, lag Sturm die halbe Nacht grübelnd wach, ohne zu einem klaren Ergebnis zu kommen.
Am Morgen fuhr seine Hand gewohnheitsmäßig an seinen Schnurrbart, um nachdenklich daran zu zupfen. Der Solamnier fühlte nur dünne Luft. Betreten rieb sich Sturm die Wange, denn er erinnerte sich an den Hohn des Kenders, als dieser dem jungen Mann den halben Schnurrbart abgeschnitten hatte. Sturm wurde rot. Er war plötzlich sehr wütend, was seine Entschlossenheit zu kämpfen – und gut zu kämpfen – verstärkte.
Innerhalb einer Stunde stand Sturm am Ende eines Tunnels. Er hatte sein Schwert fest in der Hand. Auf ein Signal des Minotaurenwärters lief er den engen Gang entlang. Als er zum Eingang der Grube kam, fühlte er den ersten Schwall warmer Luft.
Beim Betreten des Schauplatzes sah Sturm das, was der Wärter als Grube des Untergangs umschrieben hatte. Es war eine große Senke, die von einer Art unterirdischer Wärmequelle erhitzt wurde. Die unterirdische Lava war am Grund der Schale an die Oberfläche durchgebrochen. Dort brodelte die siedende Lava und rülpste gelegentlich große Blasen sengend heißer Gase aus. Inseln aus schwarzem Gestein ragten aus der feurig heißen Flüssigkeit heraus. Sie waren durch Brücken miteinander verbunden, die sich hoch über die Lavagrube wölbten. Jeder Absturz würde den sicheren Tod bedeuten.
Die Hitze, die von der Lava ausging, versengte Sturm die Haut. Als er sich in der Grube umsah, mußte er gegen die Helligkeit und die durchdringende Hitze die Augen beschirmen.
Er musterte die Menge auf der Galerie auf der anderen Seite der Grube und sah keinen Tolpan zwischen den Minotauren. Das höhnische Geschrei setzte seinen Ohren zu, während der Gestank der Minotaurenmenge seine Nase überwältigte.
Direkt gegenüber von Sturm führte ein weiterer Tunnel in die Arena, dessen Eingang im Schatten lag. Sturm sah, wie eine gehörnte Gestalt in der Finsternis aufragte, die Öffnung erfüllte und dann ins Freie trat.
Sturm schätzte die Größe seines Gegners auf mindestens zwei Meter. Seine Hörner, die seiner Größe einen weiteren halben Meter hinzufügten, waren glänzend gewachst.
Weißblondes Haar strömte bis auf seine Schultern herab und dicker Pelz bedeckte die sichtbaren Stellen seiner Haut. Ein Ohr war von zwei großen Ringen durchbohrt, und die massige Brust bestand nur aus Muskeln.
In einer Hand trug er einen Mandoll – einen eisernen Handschuh der einzigartigen Machart, welche die Minotaurenchampions liebten, mit Stacheln an den Knöcheln und einer Dolchklinge an der Rückseite des Daumens. Die andere Hand umklammerte einen Clabbard mit scharfem Sägerand.
»Tossak! Tossak! Tossak!« stimmte die Menge an.
»Sturm! Sturm! Sturm!« quiekte eine Stimme, deren hohe Tonlage sie von der Minotaurenmenge abhob. Sturm erkannte sie als Tolpans.
Tossak begrüßte die Menge mit arrogantem Nicken. Dann warf der riesige Minotaurus einen wütenden Blick auf Sturm, blähte seine viehische Schnauze auf und stieß eine wilde Herausforderung aus.
Mit einer Schnelligkeit und Behendigkeit, die den Solamnier überraschte, stürmte Tossak auf ihn zu. Geschickt sprang er von einer schwarzen Felsinsel zur anderen, bis er an der Brücke war, die zu Sturm hinüberführte.
Wieder brüllte der Minotaurus seine Herausforderung und fuchtelte dabei zum Nachdruck mit seinem Clabbard in der Luft herum.
»Tossak! Tossak! Tossak!« rief die Menge.
Sturm wurde schwindelig. Das alles, die brüllende Hitze, die tobende Menge und der bellende Minotaurus brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Sturm schüttelte den Kopf, um klar zu werden. Dann überraschte der Solamnier jedermann damit, wie schnell er sich bewegen konnte – von Tossak fort.
Mit einem weiten Sprung über eine Felsinsel gelangte Sturm auf eine andere Brücke, wo er Tossak gut im Blick hatte, vor einem unmittelbaren Angriff jedoch in Sicherheit war. Ritterliche Grundsätze umfaßten auch die Vorsicht, schärfte sich Sturm ein, und in diesem Fall erkaufte er sich Zeit, in der er herausfinden konnte, wie er den riesigen Tiermenschen am besten bekämpfen konnte.
Beim Rückzug des Menschen schnaubte Tossak wütend und scharrte mit seinen gespaltenen Hufen im Boden.
»Sturm! Sturm! Sturm!« feuerte Tolpan an.
Sturm riskierte einen Blick auf die Menge. Dort, fast in der Mitte der Menge, saß der Kender zwischen zwei Minotauren eingezwängt. Einer davon war der, mit dem er Tolpan am Vortag gesehen hatte, der Schamane mit seinen Pelzen und Federn.
Tolpan winkte Sturm fröhlich zu.
Noch ehe Sturm wieder auf die Arena achtete, stürmte Tossak los. Wieder sprang er über die dunklen Gesteinsinseln, wobei er die Hitze in der Grube, die Sturms Augen verbrannte, nicht wahrzunehmen schien.
Wieder machte der Stiermann kurz vor Sturm auf der anderen Seite der Brücke halt. Wieder brüllte er seine Herausforderung.
Und abermals drehte sich der Solamnier um und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon. Er sprang über die Inseln und rannte über Brücken, bis er so weit wie möglich von Tossak entfernt war, ohne die Arena zu verlassen. Die Hitze zehrte an Sturm. Der schweißgebadete Solamnier mußte sich zwingen, aufmerksam zu bleiben. Unter ihm blubberte am Grund der Grube die heiße Lava.
»Tossak! Tossak! Tossak!«
»Sturm! Sturm! Sturm!«
Inzwischen war Tossak davon überzeugt, daß sein Gegner ein Feigling war. Der Minotaurenchampion verdrehte die Augen und zuckte mit den Schultern, was ihm weiteren Jubel von der Menge einbrachte. Er drehte sich um und schlenderte in Sturms Richtung. Diesmal ließ er sich Zeit bei der Überquerung der Inseln und Brücken, bis er auf Waffenlänge von dem Solamnier entfernt an einer kurzen Steinbrücke stand.
Wieder schwang Tossak seine Waffe in der Luft, schrie und gestikulierte.
Die Menge brach in tosenden Jubel aus…
…worauf Sturm über die Brücke angriff. Das Schwert hielt er ausgestreckt vor sich, so daß es auf den Minotaurus zeigte.
Sturm konnte nichts anderes denken als, wie langsam seine Beine sich zu bewegen schienen, wie schwer das Schwert in seinen Händen lag, wie bald nichts mehr eine Rolle spielen würde, weil er tot sein würde. Der Solamnier war nicht gerade in der besten Verfassung, einen Minotauren auf Leben und Tod zu bekämpfen. Nachdem er die Tage im Meer gerade so überlebt und weitere Tage rauher Behandlung im Gefängnis von Atossa verbracht hatte, kam sich Sturm vor, als würde er durch einen von Schlingpflanzen durchwucherten See waten.
Im Augenblick jedoch war er im Vorteil. Da Tossak den Angriff nicht erwartete, weil er vom Gebrüll der Menge abgelenkt war, und gar nicht recht glauben konnte, was Sturm nach seiner vorherigen, scheinbaren Feigheit da tat, reagierte er erst im allerletzten Moment auf seinen Gegner.
Dann schwang der Minotaurus fast reflexartig die Hand mit dem Handschuh und fing Sturms Schlag ab. Der Klang von Sturms Schwert, das auf den eisernen Handschuh traf, hallte durch die Arena. Die Waffe des Ritters fiel zu Boden und rutschte über die Brücke, um zitternd am Rand liegenzubleiben.
Sturm warf sich hinterher, während Tossak ihn nun ernstlich verfolgte. Sturm ergriff das Schwert gerade noch rechtzeitig, um es hochzuschwingen und eine Hüfte von Tossak aufzuschlitzen.
Der Minotaurus schrie vor Wut auf und wich zurück, allerdings nur kurz. Dann stürmte Tossak vor und packte mit seinem Handschuh Sturms Schwert, entriß es dem Griff des Solamniers und warf es über die Seite der Brücke in die Grube, wo es in die feurige Flüssigkeit sank.
Die Menge jubelte zufrieden.
Tossak wischte Blut von seinem Bein und leckte daran, während er Sturm im Auge behielt. Dann näherte er sich dem Solamnier und schwang dabei seinen schweren Clabbard. Sturm kroch eilig vom Rand der Brücke weg. Verzweifelt suchte er einen Ausweg.
Der Minotaurenchampion schwang seinen Clabbard in einem knappen Halbkreis und kam nur wenige Fingerbreit neben Sturms Stirn herunter. Als Tossak wieder ausholte, duckte Sturm sich zur Seite und griff dann von unten so an, daß Tossak auf die Brücke fiel und seinen Clabbard losließ. Bevor der mehr erstaunte als verletzte Tossak reagieren konnte, war es dem Solamnier gelungen, die Waffe über die Seite der Brücke zu treten, wo sie in die Feuergrube rutschte.
Die Menge knurrte vor Aufregung.
Tossak sprang auf die Beine. Er heulte vor Wut und Demütigung, als er auf Sturm zustampfte, der fast taumelnd zurückwich.
Ein schwerer Schlag traf den Solamnier ins Gesicht und schlug ihn nieder. Ein Tritt ließ ihn wegrollen. Er fing sich gerade rechtzeitig am Rand der Brücke ab. Sturm versuchte, wieder aufzustehen, doch Tossak war genau neben ihm. Der Minotaurus schloß seine schwere Hand um einen von Sturms Knöcheln und hob ihn derart hoch, daß der junge Solamnier über den Rand der Lavagrube baumelte.
Während Sturm sich vergeblich wand und mit den Armen fuchtelte, sah er unten nichts als wogende Lava.
Glühende Hitze umfing Sturm.
Tossak hob triumphierend den Kopf, als er seine baumelnde Beute der Menge vorführte. Sein Tiergesicht sprang zu einem höhnischen Grinsen auf. Er holte tief Luft und stieß ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus.
Die Menge brüllte zurück.
Der Minotaurenkämpfer hob die Hand mit dem Handschuh und löste den Dolch aus, der an der Rückseite seines Daumens verborgen lag. Die scharfe, gekrümmte Klinge schnappte auf. Tossak schickte sich an, dem Leben seines unfähigen Gegners mit einem letzten Stich ein Ende zu setzen.
Tolpan hatte das Duell voller Faszination beobachtet. Aber etwas fehlte bei der ganzen Sache, fand er, etwas, das die ungleiche Chancenverteilung wettmachen würde. Der Kender rutschte auf seinem Platz hin und her und erwartete ungeduldig eine unerwartete Wendung.
Tossak hielt Sturm mit einer Hand hoch und ließ ihn über den Rand der Brücke baumeln. Gleich würde er ihn fallen lassen. Als der riesige Minotaurus die tödliche Klinge am Daumen seines Mandollhandschuhs öffnete und der Menge zu verstehen gab, daß Sturm dem Tode nahe war, bemerkte Tolpan einige Schatten, die über die Arena flogen.
Der Rest der Menge bemerkte sie zur selben Zeit.
Auch Tossak.Eine exakt gezielte, gekrümmte Keule traf Tossak auf den Arm, der Sturm hielt, während eine zweite, diesmal dornenbespickte, ihm ins Gesicht geschlagen wurde.
Um an seine frischen Wunden zu greifen, ließ Tossak Sturm los.
Sturm stürzte auf die glühende Lava zu. Doch eine Gestalt sauste unter ihn und fing ihn auf. Der benommene Solamnier spürte, wie er aufwärts getragen wurde.
Überall herrschte Chaos, die Minotauren waren außer sich.
Fesz, der mit offenem Mund dastand, war zutiefst erschüttert. Das konnte nur ein böses Omen sein, diese zweite Flucht eines Menschen, und diesmal so kurz vor dem Zeitpunkt, den der Nachtmeister für das Kommen von Sargonnas angesetzt hatte.
Tolpan hüpfte herum. Ihm gingen fast die Augen über angesichts dieses Spektakels. »Da ist er!« rief er Dogz und Fesz zu und zeigte auf eine starke Gestalt mit langen, braunen Haaren, die in den Klauen des einen Kyrie hing. »Das ist der Kerl, von dem ich euch erzählt habe – das ist Caramon!«
Eine Minotaurenwache rannte auf die Angreifer zu und schwang mit beiden Händen einen Dreizack in einem weiten Kreis in der Hoffnung, einen der verhaßten Vogelmenschen zu treffen.
Zwei Dornenkeulen trafen ihn gleichzeitig. Der Minotaurus stürzte und sank mit einem entsetzlichen Schrei in die Lavagrube, während die Vogelmenschen aus der Arena brausten und zum Himmel aufstiegen.
Blut strömte aus den Wunden, die für immer Narben auf Tossaks Gesicht hinterlassen würden. Der Minotaurus stand auf der Brücke und schüttelte die Faust mit dem Handschuh gegen den Himmel.Der Nachtmeister auf Karthay machte sich wegen der wachsenden Anzahl unheilverkündender Vorzeichen allmählich Gedanken.
Er hatte bereits entschieden, daß es Zeitverschwendung wäre, die Menschenfrau zu foltern. Außerdem lag ihm gar nicht so viel daran, sie zu quälen.
Er hatte viel wichtigere Pläne mit ihr. Sie würde als Köder für die anderen Menschen dienen, die in der Gegend gesichtet worden waren. Wenn das nicht klappte, würde sie bei dem Spruch für Sargonnas von Nutzen sein – als Blutopfer.
Die junge Frau hatte ihnen wirklich zu schaffen gemacht, seit beobachtet worden war, wie sie um das Lager des Nachtmeisters in den vulkanischen Ruinen der einst berühmten Stadt Karthay herumschlich.
Obwohl sie höchstens halb so groß war wie ein durchschnittlicher Minotaurus, hatte sich die Menschenfrau nicht schlecht geschlagen. Einem Minotaurus hatte sie mit dem Schwert den Hals durchbohrt, und einem anderen hatte sie die Hand abgeschlagen, bevor sie gefaßt worden war. Nachdem die schlanke, dunkelhaarige, laut fluchende Frau ins Lager geschleppt worden war, hatte sie sich geweigert, dem Nachtmeister auch nur das Geringste über sich oder ihr Vorhaben zu verraten.
Erst durch sein ausgezeichnetes Spionagenetz fand der Nachtmeister heraus, daß sie die Halbschwester des jungen Magiers Raistlin aus Solace war – Kitiara Uth Matar. Und wenn Kitiara auf Karthay war, würde Raistlin Majere auch bald kommen.
Kitiara wurde in Sichtweite des Lagers in einer Art Zelle festgehalten, einem großen Käfig aus Holzlatten, den die Minotauren aus Lacynos für Tiere hergebracht hatten. Zunächst war sie unendlich lästig gewesen, denn sie fauchte und spuckte dauernd die Minotauren an, die bei ihr Wache hielten. Jetzt hatte der Nachtmeister Kitiara mehrere Tage hungern lassen, worauf sie sich allmählich etwas beruhigte.
Es war nicht Kitiara Uth Matar, die dem Nachtmeister Sorgen machte.
Es war das Gefühl – wie ein Stein in seinem Herzen –, daß etwas gewaltig schieflief. Zuerst waren da der Kender und seine beiden menschlichen Begleiter, die das Jalopwurzpulver von dem Verräter Argotz gekauft hatten. Mit Argotz hatte er abgerechnet, und der Kender war gefangengenommen und in einen Verbündeten verwandelt worden. Fesz verbürgte sich für die Ergebenheit von Tolpan Barfuß und war mit ihm auf dem Weg nach Karthay.
Die beiden Menschen hätten im Blutmeer ertrinken müssen, hatten jedoch irgendwie überlebt und waren im Gefängnis von Atossa aufgetaucht. Unglücklicherweise hatte der Nachtmeister davon zu spät erfahren. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise, die die Gefängnisbeamten noch immer nicht durchschauten, war einem der Menschen die Flucht geglückt. Das war Raistlins Zwillingsbruder, Caramon. Das allein war schlimm genug.
Jetzt kam die Nachricht, daß auch der andere Mensch entkommen war – auf erstaunliche Art. Nachdem der Möchte-Gern-Ritter von Solamnia zum Tod in der Grube des Untergangs verurteilt worden war, hatten die Kyrie diesen Sturm Feuerklinge im letzten Moment durch einen Luftangriff gerettet. Trotz aller Bemühungen der minotaurischen Soldaten waren die Kyrie nach Norden geflohen, in ihren verborgenen Schlupfwinkel in den Bergen.
Die Nachricht von Fesz besagte, daß der böse Kender, Tolpan Barfuß, schwor, er hätte gesehen, daß Caramon Majere die waghalsige Rettungsaktion bei Tageslicht befehligt hatte.
Die beiden Menschen, Caramon und Sturm, mußten eine Art Bündnis mit den Vogelmenschen geschlossen haben, den erklärten Feinden der Minotauren.
Das war wirklich beunruhigend, wie der Nachtmeister fand.
Auch dem Obersten Kreis wurde bei den Berichten von diesen Geschehnissen unwohl. Dazu kam, daß sich die Orughi zierten, große Truppen dem Kommando der Minotauren zu unterstellen. Die Ogerstämme hatten geradeheraus gesagt, daß sie nicht an dem Versuch der Versklavung der Welt teilnehmen würden, bis sie den Beweis für die Existenz von Sargonnas gesehen hatten.
Auch auf andere Partner konnte er sich nicht mehr richtig verlassen.
Der Nachtmeister bückte sich und ließ graue Vulkanasche durch seine Finger rieseln. Er war von einer eingeäscherten Stadt umgeben, deren Treppen nirgendwo hinführten, deren Säulen nichts mehr trugen. Ein langer Tisch und ein Stuhl standen am flackernden Feuer. Ein Regal enthielt Bücher, aber auch Becher mit Spruchingredienzien.
Das Zimmer war eher eine Ansammlung von Möbeln als ein Zimmer, denn es hatte weder Wände noch Türen noch eine Decke. Es lag offen unter dem schwarzen, abweisenden Himmel in der Mitte der Ruinen.
Dieser Teil der alten Stadt war einst der Eingang zur großen Bibliothek gewesen. Jetzt war es nichts als kaltes, vulkanisches Gestein.
Der Nachtwind zog durch die Federn und Glöckchen des Nachtmeisters. Er warf einen Blick auf die Menschenfrau in ihrem Holzverschlag. Obwohl Kitiara tagelang nichts gegessen hatte, war sie voller Energie und lief ruhelos in ihrem Gefängnis umher.
Der Nachtmeister sah zu seinen höchsten Akolythen hinüber, den zwei Mitgliedern der Hohen Drei, die hiergeblieben waren, als Fesz nach Mithas abgereist war. Sie drängten sich aneinander und schliefen, nur durch eine Decke geschützt, im Sitzen.
Minotaurensoldaten patrouillierten um das Lager herum.
Seufzend blickte der Nachtmeister zum Himmel, auf die Monde und die Sterne.
Noch drei Tage, zwei Nächte.
Es waren nur noch wenige Stunden bis zur Morgendämmerung. Noch ein paar Stunden eisiger Kälte, bis nach Sonnenaufgang die gnadenlose Hitze wiederkehren würde. Der Nachtmeister machte sich Sorgen, doch er vertraute weiter auf Sargonnas. Nachdem er sich in seinen Mantel gewickelt hatte, legte sich der Nachtmeister auf den kalten Boden und schlief sofort fest ein.